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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Erinnerung als Identitätsbewahrung

In der Literatur der ungarndeutschen Minderheit ist nach dem Jahrzehnte langen Schweigen die quälende Frage immer wieder gestellt worden, ob sie ihre Identität und alles, was zu ihr gehört ‒ Heimat, Kultur und Sprache ‒ bewahren bzw. neu beleben kann. Die Antworten sind unterschiedlich: von der Hoffnung über das trotzige Standhalten bis zur Resignation und Verzweiflung – all diese Gefühle und Attitüden sind poetisch dokumentiert. Für die jüngere Generation ruft diese Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft zugleich auch die notwendige Suche nach den historischen Spuren der Ahnen hervor. So findet das Heraufbeschwören von meist vergessenen uralten Ereignissen in der historischen Erinnerung statt, im Gegensatz zu den Geschichten, die in den Familien als erlebte Erfahrungen vermittelt werden. Denn was für die Vorfahren – durch Kontinuität der historisch geprägten und sorgfältig gepflegten Tradition – selbstverständlich war, ist für die Nachkriegsgeneration zum größten Teil verlorengegangen. Der Verlust der Sprache und Kultur, der oft zu spät den jüngsten Zugehörigen der deutschen Minderheit bewusst geworden ist, hat viele von ihnen dazu inspiriert, den Wurzeln nachzugehen, um sich selbst die Frage beantworten zu können, wer sie eigentlich sind, was ihre Muttersprache ist, und wo ihr Vaterland zu finden ist. Es ist dabei kein Zufall, dass gerade die intellektuelle Schicht durch diese schwierigen und meistens auch schmerzhaften Fragen betroffen wurde. Denn die Intellektuellen stellen – infolge ihrer Bildung und Sensibilität – auch ihre Existenz betreffend mehr Fragen und ihre Weltoffenheit verlangt auch Antworten. Persönliches Engagement und allgemeiner Erkenntnisdrang sind also die wichtigsten Motivationen, welche auch die ungarndeutschen Dichter in die tiefe Vergangenheit ihrer Ahnen zurückführt. Es gibt keine bedeutende Künstlerpersönlichkeit unter ihnen, die sich nicht verpflichtet gefühlt hätte, sich mit der Identitätsproblematik auseinanderzusetzen.

Josef MichaelisHeimat-los

Noch einmal
besuchte er
die Kirche
alle Gräber auf dem Friedhof
sein Elternhaus
in der unteren Gasse
Ging dann
schon als Fremder
durch die Straßen


Jacobus
mein Vorfahr
und seine Frau Katharina
mit drei Kindern
aus Ubstadt bei Bruchsal
nach Ungarn
genau vor 250 Jahren
an jenem im Veilchenduft
erwachenden Frühlingstag

(2001)

 

Interpretation

Schon die doppeldeutige Überschrift Heimat-los des Gedichtes von Josef Michaelis verweist auf die Aufbruchssituation der Vorfahren, auf den Schwellenzustand, wo Jacobus mit seiner Familie von seinem alten Zuhause Abschied nimmt, und die so „heimatlos“ Gewordenen in die noch unbekannte neue Heimat losfahren. Der zweiteilige Text berichtet zuerst in lapidarer Erzählform von dem letzten Besuch des Familienhauptes in der Kirche und dem Friedhof. Die Bemerkung „schon als Fremder“ deutet die endgültige Trennung vom Heimatort, die wohl schwere und schmerzhafte Entscheidung an. Die Wirkung der wortkargen Darlegung dieses außergewöhnlichen Ereignisses besteht vor allem in dem in medias res-Beginn, mit dem die rituale Abschiedsszene lebendig gemacht wird. Erst im zweiten Textteil benennt dann das lyrische Ich, der Chronist der Familiengeschichte den Namen der Ansiedler-Ahnen und den Zeitpunkt der Auswanderung: „genau vor 250 Jahren / an jenem im Veilchenduft / erwachenden Frühlingstag“. Das einzige Attribut im ganzen Gedicht („im Veilchenduft / erwachenden“) feiert mit schlichtem Blumenschmuck den Jubiläumstag.

Robert Becker Ungarndeutsche Ballade

ich will euch nun erzählen
von einem Volk die Mär
das runter ist gefahren
die Donau bis zum Meer


mit Hoffnung schwer beladen
die Seele tief gerührt
so zogen sie gen Süden
vom Kreuze angeführt


gefolgt sind sie dem Rufe
Land und Flur bebauen
das Ungarn neu zu jäten
Wildnis rauszuhauen


da drunten an der Donau
fing unser Schicksal an
betrübt ergriff es alle
bis auf den letzten Mann


erst kamen harte Jahre
wo Hunger uns gezählt
der Tod im blinden Gleichmut
hat viele ausgewählt


doch in des Herren Weinberg
gab es für uns Gnade
frohlockt hat jeder Winzer
wenn die Lese nahte


ruhmvoll wir hervorgebracht
der Gelehrten viele
edle Künste aller Zeit
waren uns're Ziele


wir hielten auch zum Lande
stets treu und immerfort
doch mussten wir erfahren
hier stört das deutsche Wort


so sollten wir bald gehen
mit leerem Bündel aus
das Brot nicht mehr vertilgen
und lassen Hof und Haus


nur mancher blieb in Ungarn
ohne es verschuldet
Jahrzehnte sind vergangen
bis man jetzt uns duldet


die Alten sind schon rüber
es folgt kein neues Glied
gar einsam ist der Sänger
verstummen soll sein Lied

 

Interpretation

Aus einer ganz anderen Perspektive wird die Ahnengeschichte von Robert Becker in seiner Ungarndeutschen Ballade erzählt. Während bei Hecker der „Wurzelschlag“ auch als emotional nach- und mitgefühlte Realität der Ankunft und Heimatsgebundenheit dargestellt wird, schreibt Becker die „Chronik“ seines Volkes aus der düsteren Sicht der unmittelbaren Nachkriegserfahrungen. Dieser Blickwinkel bestimmt nicht nur die bitter elegische Tonlage des ganzen Textes, sondern auch dessen pessimistischen Ausklang. Mit feierlich archaisierenden Gebärden des Heraufbeschwörens und in klassischer Metrik mit jambischem Versmaß werden hier die entscheidenden Ereignisse und Momente von mehr als dreihundert Jahren in Erinnerung gerufen. Beinahe katalogartig zählt das lyrische Ich die historischen Errungenschaften und Ergebnisse der Siedlungsgeschichte des Ungarndeutschtums auf. Die heldenhafte Arbeit, mit der das ungarische Brachland bewältigt wurde, die hervorragenden Künstler und Gelehrten, die (auch) die ungarische Kultur bereichert haben. Von Loyalität und Treue ist dann die Rede, auf die nur undankbare Abweisung und Diskriminierung die Antwort waren. Im Schlussteil erscheint wieder der Dichter – dieses Mal nicht mehr als Ich-Erzähler, sondern als letztes Glied seines aussterbenden Volkes.

Robert Hecker Verpflanzung

Ich höre noch das Rasseln der Räder:
Neue Hoffnungen wachsen in der
Sehnsucht des Elends. Wir hörten
den Ruf in Hessen und hofften:
Dort unten atmet man frei. Heimlich
stahlen wir uns auf das Fuhrwerk
– uns hat der Fürst nicht verkauft -
und kamen in niedergebrannten
Gegenden an. Das neue Zuhause?
Eins ist sicher: Ich höre noch immer
das Rasseln der Räder
und hoffe, daß es doch bald
ganz verstummt...

Robert Hecker Wurzelschlag

Noch rufen die alt her vertrauten Berge,
Noch träumen wir vom Weinbau am Hang;
Doch sind schon die hiesigen Trauben süßer,
Voller die Ähren, die Felder breit und lang.
Noch hören die Kinder die Wiegenlieder,
Noch wiederholt sich uralter Klang;
Doch wenn der Zigeuner die Geige zieht, so
stimmt unser Herz auch gleich ein in sein’n Gesang.
Noch sind wir mit Hessen so stark verbunden,
Noch suchen uns die Nachrichten auf;
Doch langsam wird all dies so blaß, verschwommen:
Ja, wir spüren schon; hier sind wir zu Haus’.

 

Interpretation

„Doppelt verwurzelt“ heißt die Überschrift der Gedichte von Robert Hecker, die in der Anthologie Erkenntnisse 2000 im Jahre 2005 erschienen sind und unter denen sich auch die hier angeführten Werke, Verpflanzung und Wurzelschlag befinden. Mit außergewöhnlicher Vorstellungskraft und Lebendigkeit werden in ihnen die spannungsvollen Zeiten der Übersiedlung der einstigen Vorfahren des Dichters vergegenwärtigt. „Verpflanzung“ und „Wurzelschlag“ – diese zwei Titel markieren zusammenfassend schon die zwei wichtigsten Momente der vor Jahrhunderte früher stattgefundenen Geschichte: das Verlassen der alten Heimat und der Erwerb eines neuen Heimatgefühls. Die Bezeichnung „doppelt verwurzelt“ verweist dagegen nicht nur auf die höchst komplizierte seelische Verfassung der ehemaligen Ansiedler, sondern auch auf das eigenartige und zum Teil ähnliche innere Erlebnis des Heraufbeschwörers der Vergangenheit. Denn in beiden Fällen geht es um die schwer beantwortbaren Fragen der Zugehörigkeit und der Identität.

Auf den Zwischenzustand verweist schon das motivisch wiederkehrende Temporaladverb ‚noch‘ („Ich höre noch das Rasseln der Räder“; „Noch rufen die alt her vertrauten Berge“), das an die lebendige Erinnerung an die alte Heimat erinnert. Entscheidend ist dabei der Perspektivenwechsel, der dem historischen Prozess treu folgt. Im Gedicht Verpflanzung wird zwar die Standortsbestimmung des lyrischen Ich in Rahmenform der Eingangs- und der Abschlusszeilen dargestellt, doch schon mit dem zweiten Satz wird die Familiengeschichte heraufbeschworen, die alte Heimat, die bald verlassen wird. Da sich die Zeitform Präsens nicht ändert, bleibt das Gegenwartserlebnis beibehalten, wodurch der Leser selbst Zeuge der Verlockung, „der neuen Hoffnungen“ wird.

Beinahe rätselhaft klingt das Schlussbekenntnis in Verpflanzung: „und hoffe, daß es doch bald / ganz verstummt…“. Drückt es den Wunsch aus, sich von der doppelten Heimatidentität zu befreien, oder von der Versuchung des Zurückverlangens in die alte Heimat, die inzwischen Inbegriff des Wohlstands geworden ist? Das Gedicht Wurzelschlag scheint dieses Dilemma zu entscheiden, indem dem wiederholten ‚noch‘ das ‚doch‘ konsequent entgegengesetzt und abschließend hervorgehoben und durch das ‚Ja‘-Wort bestätigt wird. Ein vielleicht noch überzeugender Beweis für die „Ankunft“ des späten Abkömmlings ist die vollständige Übernahme der Rhythmik und Rhetorik des berühmten Liebesgedichtes Szeptember végén [September-Ausklang] von dem ungarischen Nationaldichter Sándor Petőfi. Sogar in der Nachdichtung von Martin Remané kann dieser intertextuelle Zusammenhang wahrgenommen werden:

Wie freundlich vorm Fenster die Blumen noch blühen,
die Pappel, sie trägt noch ihr sommerlich Kleid!
Doch siehst du im Norden schon Schneegewölk ziehen,
und hoch in den Bergen, da hat's schon geschneit.
Noch fühl ich durchpulst mich vom Sommer wie immer,
der Säfte der Jugend mich noch nicht beraubt,
doch zeigen die Schläfen schon silbernen Schimmer,
der Rauhreif des Winters sinkt sacht auf mein Haupt. 

 

Robert Becker:  Geplündert

erinnere mich.
am zitternden Feuer
rot – rot vor Scham.
versuche meinen Platz zu finden:
mein Volk vertrieb mir die Zeit
geschändet unsere Häuser – abrißreif.
immer leiser werden unsere Lieder:
feines Sausen noch – dann Stille.
jede Bleibe ohne Sinn
und doch:
aus Trotz.

(1993)

 

Interpretation

In der Erinnerungsgeste des Ich wird gleich im Auftakt des Gedichtes das Schamgefühl hervorgerufen, das durch tiefes Mitgefühl mit den einst Erniedrigten auch in den Nachfahren entfacht wird. Aufgrund dessen kann das Adjektiv „zitternd“ sowohl auf das Angstgefühl der Eingeschüchterten als auch auf den Zorn und die Empörung des Ich bezogen werden. Von dieser Situation ausgehend wird die Parallele zwischen dem Ich und seinem Volk gezogen, indem die „abrißreifen“ Häuser und die „immer leiser werdenden“ Lieder das Schwinden des Volkes zusammen mit seiner Kultur, deren Träger auch der Dichter ist, versinnbildlichen. Genauso doppelsinnig ist der Titel Geplündert, der den Zustand der Gemeinschaft und des Individuums gleichfalls charakterisiert.

Aufgrund dieser Schicksalsgemeinschaft können auch die verklärte Kausalität in den folgenden Zeilen gedeutet werden: „versuche meinen Platz zu finden: / mein Volk vertrieb mir die Zeit“. In der komprimierten Metaphorik wird nämlich die Ursache und Wirkung scheinbar vertauscht. Das Volk, das vertrieben und „geschändet“ wurde, kann seinen Nachfahren keine Zukunft mehr in seinem Ungarndeutschtum bieten. Die „vertriebene“ Zeit bedeutet also die verlorene (oder zumindest verunsicherte) Zukunft und wegen dieser Bitterkeit wendet sich das Ich vorwurfsvoll gegen sein ‚schuldlos-schuldige‘ Volk. Nach der trostlosen Vor- und Darstellung wird die Paradoxie mit der stillen Hoffnung des Widerstandes in der Verzweiflung laut: „jede Bleibe ohne Sinn / und doch: / aus Trotz.“