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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Robert Becker: Schwäbische Türkei

Robert Becker:  Schwäbische Türkei

Aus den Wandrissen
wortberaubter Bauernhäuser
träufeln Märchen.
Alten Frauen ähnlich,
die man mit ihren Gartenbesen
plaudern hört,
murmeln sie vergessene Geschichten.

(1987)

 

Interpretation

Das vollständige Gedicht mit dem Titel Schwäbische Türkei besteht aus einem virtuos metaphorisierten Hinweis auf den Erinnerungsakt selbst: „murmeln sie vergessene Geschichten“. Das Adjektiv „wortberaubt“ deutet das tragische Schicksal des Ungarndeutschtums nach dem Krieg an, als es durch verschiedene brutale Maßnahmen der Einschüchterung zum Schweigen gebracht wurde. Was die „vergessenen Geschichten“ beinhalten, kann der Leser nicht erfahren. Denn es gehört zum Wesen der magischen Heraufbeschwörung, dass sie in einer beinahe gespensterhaften Situation stattfinden. Die „wortberaubten“ Häuser stellen eine leblose Welt dar. Die Vergleichsmetaphorik („Alten Frauen ähnlich“) unterstreicht diese todgeweihte Vereinsamung. Der Titel verweist – ohne nähere lokale Bestimmung – auf die Heimat in Südwest-Ungarn, die nach der Rückeroberung von den Türken besetzten Gebiete durch deutsche Ansiedler bevölkert wurden.

 

 

Interpretation

Das Gedicht Schwäbische Türkei macht die archaischen Schichten der donauschwäbischen Geschichte, wie die Architektur, Sprache und Kultur des Dorfes zu seinem Thema. Der Titel des Textes deutet auf das bedeutendste Siedlungsgebiet der Ungarndeutschen hin, die mit ihrer Überwiegend donauschwäbischer Bevölkerung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert noch zu den bedeutendsten zusammenhängenden deutschen Sprachinseln in Europa gehörte. Das Gebiet bildete von den südöstlichen Teilen der Somodei mit den Komitaten Tolnau und Branau ein zusammenhängendes deutsches Sprachgebiet. Die vielfältigen Mundarten, die archaischen Volkssitten und die eigenartige Architektur machten das Gebiet zu einer eigenständigen kulturellen Einheit innerhalb des Landes. In den Städten wurden zwischen den einzelnen Volkgruppen hiesige regionale Varianten der deutschen Sprache gesprochen.

Die Elegie von Robert Becker stellt die übrig gebliebenen Splitter (Wandrissen, wortberaubte Bauernhäuser) und die Erinnerung ( Märchen, vergessene Geschichten) an die Zeiten der ungarndeutschen Geschichte, als die deutsche Kultur in den geschlossenen Dorfgemeinschaften von Südtransdanubien ihre Blütezeit erlebte. Die Geschehnisse werden im Gedicht mit einer melancholischen Gelassenheit zur Kenntnis genommen. Die mehrfache Erwähnung der Narration, die fähig ist die Vergangenheit zu bewahren und gewisse kulturelle Güter weiter zu tradieren, deutet aber auf die Position des moralischen Wiederstandes hin. Das Gedicht stellt nicht die Vollendung der sprachlichen und kulturellen Assimilation dar, sondern die Situation der Bedrohung, die letzten Endes zum endgültigen Verlust kultureller Werte führen kann. Die Bezugnahme auf die Rolle der Erzählungen (Märchen, Geschichten) lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Funktion der Literatur. Diese kann nämlich Geschehnisse und außersprachliche Phänomene darstellen und sie kann dadurch als Mittel der Erhaltung von kulturellen Gütern fungieren.

Die Konzentration von Bedeutungsschichten aus unterschiedlichen Segmenten der Kultur wie Sprache, Geschichte, Architektur, Volkskultur und Literatur verleiht dem Gedicht einen außergewöhnlichen künstlerischen Wert. Die prosaische Sprache des Textes verfügt durch die inhaltlichen Beziehungen der Begriffe über einen Gedankenrhythmus. Die Reime am Ende der unpaarigen Zeilen (Wandrissen – Märchen – Gartenbesen – Geschichten) und im inneren der Zeilen (träufeln – plaudern – murmeln; wortberaubter – Bauernhäuser; alten Frauen) tragen ebenfalls zur Verflechtung der semantischen Beziehungen bei.

Das Gedicht ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Texte der ungarndeutschen Literatur fähig sind die eigene Heimat in der widersprüchlichen Situation von Assimilation und Bewahrung von kulturellen Werten zu repräsentieren.