Valeria Koch: Steh auf und wandle!
für Christine
Selbst, wenn die weiße, kalte Hand des Todes
heut noch den Traum deinen Nächten entreißt
selbst, wenn das Salz in den Schmerzblumenfurchen
aussickert dein Gesicht, das schöne, ausschweißt
Wenn auch nur mit Krücken
(die so sehr drücken)
Steh auf und wandle!
Komm Freude pflücken!
Selbst, wenn die Stunden wie gelähmt auf dich fallen
selbst, wenn in dir Qual und Angst widerhallen
selbst, wenn du schweigst wie im Fleisch dir Metall
selbst, wenn verkrüppelt dir vorkommt das All
Steh auf und wandle!
Sieh, der morsche Baum blüht – als Beispiel für
Hoffnung
Steh auf, hinfällige Gestalt
wandle emporschauend, schon findest du Halt
auf Erden
langsam auftauen die steifen Gebärden
sobald in deinem Auge die Sonne erstrahlt
Du hast uns an deiner Seite
Steh auf und wandle!
Es ruft dich die Weite
(1978)
Interpretation
Der Titel des Gedichtes ist ein Zitat aus der Bibel. Im Evangelium nach Johannes (5. 1-8) wird die wunderbare Heilung eines Kranken erzählt:
1 Darnach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 2 Es ist aber zu Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der auf hebräisch Bethesda heißt und der fünf Säulenhallen hat. 3 In diesen lag eine große Menge von Kranken, Blinden, Lahmen, Abgezehrten, welche auf die Bewegung des Wassers warteten. 4 Denn ein Engel stieg zu gewissen Zeiten in den Teich hinab und bewegte das Wasser. Wer nun nach der Bewegung des Wassers zuerst hineinstieg, der wurde gesund, mit welcherlei Krankheit er auch behaftet war. 5 Es war aber ein Mensch daselbst, der achtunddreißig Jahre in seiner Krankheit zugebracht hatte. 6 Als Jesus diesen daliegen sah und erfuhr, daß es schon so lange Zeit mit ihm währte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, wenn das Wasser bewegt wird, in den Teich befördert; während ich aber selbst komme, steigt ein anderer vor mir hinab. 8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und wandle! 9 Und alsbald wurde der Mensch gesund, hob sein Bett auf und wandelte.
Das Gedicht von Koch zitiert gleich schon im Titel die berühmten Worte Christi, mit denen er den schwerkranken Menschen heilt. Sie werden im Text viermal wiederholt und unterstreichen damit die Botschaft des Gedichtes. Aber nur diese Schlüsselworte – „Steh auf und wandle” – sind in der Bibel und im Gedicht gemeinsam, alle wesentlichen Momente sind in den beiden Texten unterschiedlich. Die wichtigste Abweichung bedeutet die Profanierung der Umstände. Profanierung heißt Entweihung, Verweltlichung – in diesem Fall wird die sakrale Gestalt Christi in eine menschliche verwandelt, denn seine Rolle übernimmt quasi das Textsubjekt, das hier den kranken Menschen anspricht. (Nach der Widmung –„für Christine“ – gilt diese tiefsinnige Ermutigung einer Frau.) Der zweite große Unterschied kommt aus dem ersten. Während nämlich die Anforderung Christi die sofortige Heilung des Kranken zur Folge hat, d. h. dem göttlichen Befehl die wunderbare Wirkung unmittelbar folgt, stellt dieselbe Aufforderung im Gedicht eher eine flehende Bitte an die geliebte Person dar. Gerade deshalb beginnt das Werk nicht mit dieser kategorischen Äußerung, sondern mit einer Reihe von Argumentationen, die versuchen, den Bettlägerigen zu überzeugen, nicht aufzugeben.
Die ganze Struktur der Textrhetorik dient diesem Überredungsakt. Die wiederkehrende Wendung „selbst, wenn“ leitet zwar die Aufzählung von den trostlosen Umständen ein, die den Kranken plagen, doch formulieren die Einwände das ‚Dennoch‘ fürs Leben: „der morsche Baum blüht – als Beispiel für / Hoffnung”; „wandle emporschauend, schon findest du Halt / auf Erden”; „Du hast uns an deiner Seite”. Auch wenn wir wissen, dass die zärtliche Hinwendung an die Leidenden und die flehenden Worte oft nicht, und vor allem nicht unmittelbar, ‚Wunder‘ bewirken, stellen sie die einzige Chance dar, unser Leben auch in der Not menschlich zu gestalten. Die höchste Leistung des Gedichtes steckt deshalb darin, dass es die oft zitierte Textstelle aus der Heiligen Schrift in humane Gesten der (allgemeinmenschlichen) Liebe umwandelt. Denn die Liebe, deren Inkarnation in der christlichen Religion Christus ist, bedeutet die Erlösung – auch für die Nichtgläubigen.