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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Valeria Koch: Erziehung

Valeria Koch: Erziehung

 

Erziehung

Immer, wenn der Opa
erzählt über Europa,
erzählt er über Kriege:
Niederlagen und Siege.
Das also ist Geschichte!
Oma lehrt uns Reime
von Goethe, Schiller, Heine,
stets über Pflicht und Ehre,
Verstummen der Gewehre.
Das sind ja nur Gedichte...

(1979)

 

 

Interpretation

Dieses „Lehrgedicht“ stellt ‒ sichtbar ironisch pointiert und didaktisch vereinfacht ‒ die geistige Erbschaft der beiden Großelternteile einander gegenüber. Dementsprechend ist der Text ‒ auch typografisch ‒ in zwei Teile gegliedert. Während der Großvater sein Enkelkind über den Verlauf der Geschichte belehrt, bringt ihm die Großmutter Literaturkenntnisse, aber auch praktische Sittenlehre bei.

Die zwei, durch Trennung hervorgehobenen Zusammenfassungen verweisen ironisch auf die Antinomie der Menschheitsgeschichte, in der die alles verheerenden Kriege und das Leben der humanisierenden Kultur einander unversöhnlich gegenüber stehen. Die unterschiedlichen Interpunktionszeichen markieren zugleich auch die realen Kraftverhältnisse: Während das Ausrufezeichen die kategorische Aussage und bitter ironisch die anscheinende Notwendigkeit der blutigen Machtkämpfe unterstreicht, zeigen die drei Punkte im zweiten Fall Nachdenklichkeit, tiefe Resignation und die Ungenügsamkeit der humanen Werte der brutalen Gewalt gegenüber. Diese Einsicht wird auch durch die Modalpartikel ‚nur‘ verstärkt. Der Titel deutet ironischer weise nicht nur auf die gegensätzliche Rollenverteilung der traditionellen Erziehung in der Familie hin, sondern auch auf die tragisch widersprüchlichen Kenntnisse und Erkenntnisse, die durch jegliche Bildung und Erfahrung ‒ durch alle möglichen Formen der Erziehung also ‒ erworben werden.