Valeria Koch: In Memoriam Hölderlin
In Memoriam Hölderlin
„Feiern möcht ich, aber wofür?“
Sehnsuchtsprößling: Einsamkeit,
Willkommen in mir.
Leg ab und setze dich,
endlich, also hier.
Kein weltweites Ich sehnt dich heißer.
Verwelkter, weißer
Schneeglöckchenduft schleicht dir entgegen.
Vielzuspäter Vorfrühling
plätschert draußen im Regen.
Hinter deinen müden Lidern schlummert
ein Kind:Schlaf ein, eh es zu weinen beginnt.
Dein schmales Lächeln übergib mir solang.
Feiern möcht ich;
meinen Untergang.
(1974)
Interpretation
In dem Gedicht wird an eine schmerzhafte Schicksalsgenossenschaft mit Hölderlin erinnert: unmittelbar durch den Titel, durch das Motto sowie am Ende durch die Wiederholung des Hölderlin-Zitats. Die Überschrift markiert nur noch die Erinnerungsgeste, die möglicherweise eine Art Huldigung vor dem weltberühmten deutschen Dichter ausdrückt. Das dem Gedicht vorangestellte Zitat aus Menons Klagen um Diotima – „Feiern möcht ich, aber wofür?” – nimmt jedoch die tiefgründige Wehmut des ganzen Textes schon vorweg. Die erste Zeile im Koch-Gedicht benennt zugleich die Ursache der qualvollen Melancholie: „Sehnsuchtsprößling: Einsamkeit“. Sehnsucht und Einsamkeit – diese beiden Motive werden hier zu Recht hervorgehoben und aufeinander bezogen, denn sie bilden den Kern der Poesie Hölderlins. Die Sehnsucht, die bei Hölderlin nicht nur nach irdischem Glück, sondern auch nach der Unendlichkeit metaphysischer Ferne trachtet, ist wegen ihrer Unerfüllbarkeit zum notwendigen Scheitern verurteilt. Von daher entsteht das quälende Gefühl der Einsamkeit, in die die unruhige Seele flieht. Gleich im Auftakt der intertextuellen Bezugnahme auf Hölderlin wird dieser verwickelte Zusammenhang in dem komprimierten Bild „Sehnsuchtsprößling: Einsamkeit“ gezeigt. Denn die Einsamkeit kann als Ursache, Folge oder sogar als Ziel der Sehnsucht fungieren. Auf diese letztere Funktion weist die Anredeform „Willkommen in mir“ hin. Die als willkommener Gast evozierte Einsamkeit ist in der Fortsetzung durch Bilder der Todesmelancholie umgeben. Die Naturmetaphern wie „verwelkter […] Schneeglöckchenduft“, „vielzuspäter Vorfrühling“ sowie die Attribute ‚müde‘ und ‚schmal‘, die sich auf eine personifizierte Einsamkeit beziehen, bereiten einen pointierten Abschluss des abgewandelten Hölderlin-Zitates: „Feiern möcht ich; meinen Untergang.“ Der tragisch-schwermütige Grundton des Werkes ist mit der Todessehnsucht des „weltweiten“ Ich zu erklären. Denn das Andenken an Hölderlin trifft zu tiefe Resonanz im lyrischen Ich, das dem Klagelied nicht die depressive Selbstdarstellung, sondern deren weitwirkendes Einsamkeitspathos entnimmt. So entsteht weder eine pure Reminiszenz noch eine Textparaphrase, sondern eine souverän modernes Werk. Davon zeugt u.a. das Kind-Motiv, das auch hier als kummervolles Zeichen der unerfüllten Mutterschaft erscheint: „Hinter deinen müden Lidern schlummert / ein Kind: / Schlaf ein, eh es zu weinen beginnt.“