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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Robert Becker: Losezeitlose

Robert Becker: Losezeitlose

(Textverstehen)

Die Zeit blieb an uns haften wie klebriges Unkraut. Sie blickt uns aus Ackerfurchen schief an, sie lauert mit jedem Öffnen der Schranktür im schönen Zimmer auf uns. Die Deutschen in Ungarn sind ein Volk, in dessen Mund die Lieder der Ahnen stumm oder fad geworden sind. Wenn ich mich anschicke, über sie zu schreiben, so könnte ich dies auch ungarisch tun. Sei es denn eine schriftstellerische Willkür meinerseits, auch die Mundart, die aus allen Gegenständen meiner Ahnen mir nachruft, – nicht zu wählen. Im Sinne der Entfremdung, im Sinne dessen, dass all dies nur eine honig-klebrige Masse von Erinnerungen ist, die ich anzuzapfen bereit bin, werde ich hochdeutsch scheiben.

Der Weg, an dem ich mich rückwärts bewege, trägt keine Gleise, die mich schnell wie ein Eilzug von Station zu Station befördern könnten. Er ist vielmehr ein enger Hohlweg, der sich vom Regen- und Schneeschmelz-Wasser, wackligen Kuh- und Pferdewagen-Spuren entlang, in den Matsch der Hügelhänge eingefressen hat, und unter dicht wucherndem Gestrüpp aus Akazien, Teufelszwirn, wilden Reben, Holunder und Hagebutten sich dahinschlängelt bis zum Bach und weiter zum Fluss, an dem Glück und Unglück ihren verhängnisvollen Lauf nahmen.

Der träge Fluss hat in Generationsferne jene abenteuerlustigen Tagelöhner, Habenichtse, Knechtsknechte und leichtgläubigen Bauern ans Land gespült, die hier – zwischen Hohlwegen, Irrwegen, Fluren und Flüssen an den Schollen haften blieben.

Gäste, die bleiben, kann man nicht mögen. Wir bleiben: In der Wildnis au allen Himmelsrichtungen die Rodung eingeschlagen – traf sich in kaum hundert Jahren Axt mit der Axt. Die Sümpfe trockengelegt, wirbelte der Wind Staub auf, der den Nachbarn in die Augen flog. Kaum erst war die Sense an die Ernte gelegt, fiel schon das Korn in fremde Speicher.

Ich sehe die Reihen der Ahnen in einem Spalier. Großvater nickt und findet nicht die Worte, die mir seit ihm fehlen; die aber auch er nicht von seinem Ahnsahn mitbekam. Halbworte bröckeln aus dieser Erinnerung, unserer eigenen Substanz ganz gleich. Diese sah erst aus wie Stahl und Eisen, bald entlarvte sie sich aber leere, entnährte Scholle.

Wir sind so viel gebröckelt in hundert Jahren und hundert und abermals Dutzend Jahren, dass es mich seit Ahnsgliedern her nicht mehr geben dürfte, noch meine Art. Ich müsste längst schon stumm sein, jeglicher Worte ohnmächtig, die je die Kehle dieser Umherstreunenden verließen.

Großvater rückt den Hut, nickt, spricht das Vaterunser und blickt mit stummen Blick in eine Zeit, in der ich lebe, in der er es nicht mehr könnte, wollte oder dürfte, weil sie ihm fremder ist als jene, in der er auch nur ein Fremder war unter all den Fremden. So blieb uns kein Wort füreinander, und wir sind stummer zu zweit als unter lauter Fremden, die fremde Sprachen sprechen und uns vom Ross oder vom Heuwagen herab verhöhnen. So bleibt Großvater das Vaterunser in einen Rosenkranz geflochten, der vielleicht schon zweifach in den Himmel reicht. Daran tanzen die Engel wie an der Leiter Jakobs auf und ab – und beunruhigen meinen Traum.

Soll ich denn einen Baum noch pflanzen, der wächst, der Staub mit Wasser zu sich nimmt und die Knochen unter der Erde mit sanftfühligen Wurzelfädchen verätzt, um aus ihnen Blätter und Äste zu treiben, die von Jahr zu Jahr neue Ringe ansammeln, damit sie eines Tags, wenn es Zeit dafür ist, mir zur Leiter werden, die mich in den Himmel führt zu meinen stummen Ahnen?!

Aus dem dürren Mund irgendeiner Ur-Urgroßmutter müsste ich helfen, den letzten faulen Zahn zu ziehen. Ich könnte mi einen Teil des Erbes ergattern: einen Glückszahn vielleicht im Rad dieser riesigen Zeituhr, die mich nicht lässt, aus der Reihe zu tanzen und mich im Pendeltakt oft schweißgebadet ticken lässt in einem Takt, dessen Rhythmus ich noch nicht zu gehorchen gelernt hab.

„Leg die Worte ab“ ruft einer aus dem Ahnenspalier, doch ich hör nicht auf ihn. Er ist ja keiner von uns. Keiner aus dem Rosenkranz der Stummen! Er ist einer, der Leinenhemd, Krempelhut, Wollsocken und Holzschuhe gegen Krawatte und Stiefel eingetauscht hat und jetzt doch nackt aus der Reihe tanzt. Ich aber bleibe stumm.