Bildgedichte
Der Lyriker Michaelis als „homo ludens“ zeigt sich am besten in seinen Bildgedichten und Kindergedichten. Es ist bekannt, dass die Visualität in der Dichtkunst eine sehr lange Tradition hat. In der modernen Zeit hat sie besonders in der Avantgarde und dann, in der Nachkriegszeit, in der konkreten Poesie eine besondere Rolle gespielt. Nicht die Gattungsform selbst, sondern die einzelnen Texte können von ihrer Originalität zeugen. In den besten Gedichten von Michaelis sind die geistreichen Bildideen mit Gedankentiefe verbunden, sodass sie in eine Reihe von ähnlichen Texten von berühmten deutschsprachigen Autoren gestellt werden können. Aus thematischer Sicht sind auch die visuellen Gedichte in drei Gruppen zu ordnen. Neben den meditativen, das menschliche Schicksal reflektierenden Gedanken sind Liebe und Politik die wichtigsten Themen der Bildtexte.
Interpretation
Die Bildgedichte Turm (1984) und Wendeltreppe (1984) legen eine elegische Rechenschaft über die Unzulänglichkeit der menschlichen Existenz ab. Der bildhafte Text in Turm stellt das ewig-menschliche Streben und dessen Vergeblichkeit dar, in himmlische Höhe zu gelangen. Die spiralförmige Wendeltreppe symbolisiert dagegen den mühsamen Weg des Menschen, auf dem sich Vergangenheit und Zukunft im Verlust des Ziels und in der Angst vor dem Tod auflösen. Die Visualität in der Literatur dient nicht nur ‒ oder in erster Linie nicht allein ‒ der Anschaulichkeit, sondern viel mehr der ästhetischen Sinnerweiterung der Texte. Die Verdoppelung der Textsemantik durch die ikonenhafte Darstellung hat nämlich eine zusammengesetzte Funktion. Einerseits hebt sie den Grundgedanken des Werkes hervor, andererseits schafft sie eine Art spielerische Distanz zwischen Bild und Text und bringt damit die gedankliche Tiefe in den Bereich des ästhetisierenden Humors hinüber.