Nelu Bradean-Ebinger: Bekenntnisse eines Mitteleuropäers
Nelu Bradean-Ebinger: Bekenntnisse eines Mitteleuropäers
Ich lebe nun schon seit 37 Jahren hier in dem von Karpaten und Alpen umarmten, von der blauen Donau durchflossenen Gebiet, das durch die Wirren einer Geschichte von über 2000 Jahren als Heimat zahlreicher Völker den von vielen in Frage gestellten Namen „Mitteleuropa“ erhalten hat. Manchen nennen es Pannonien, andere Mittelosteuropa und wer weiß noch wie.
Für mich liegt es im Herzen der alten Dame, Europa. Mein eigener Name stehe „Zeuge“ dafür: Nelu Bradean Ebinger. Nelu, die rumänische Koseform von Ioan, deutsch Hansi, ungarisch Jánika. Bradean kommt vom rum. brad, dt. Tanne. Ebinger ist der Name meiner deutschen Vorfahren, die um 1760 in den „Ulmer Schachteln“ die Donau herab bis ins Banat gekommen waren, wo sie in einem schon von Ungarn, Serben und Rumänen bewohnten Gebiet eine neue Heimat fanden. Der Bogaroscher Dorfchronik zufolge kam die Familie Ebinger aus dem Oberrheinland. Obwohl ich in der dreisprachigen Stadt Arad, im Entbindungsheim, das Licht Mitteleuropas erblickt habe, bekenne ich mich als Bogaroscher (rum. Bulgarus, ung. Bogáros), einem donauschwäbischen Dorf im kornreichen Banat, 5 Kilometer von Lenauheim, dem Geburtsort Nikolaus Lenau, entfernt. Genau 100 Jahre vor meiner Geburt, 1852, wurde der Heimatdichter der Banater Schwaben Johann Szimits in Bogarosch geboren. Von solchen illustren Meistern des deutschen Wortes umgeben, ist es kein Wunder, dass ich schon in früher Kindheit zur Feder griff und Verse, einfache Reime schmiedete. Ja, schmiedete, unser Nachbar war nämlich Schmied. Zu Hause rief man mich mal Hansi, mal Nelu, bis dann der letztgenannte im nun zu Rumänien gehörenden Banat zu meinem offiziellen Vornamen wurde. Seitdem steht er, dieser niedliche Kosename, der oft mit Nehru, Nero oder Nelli verwechselt wird, in allen meinen Papieren. Ich habe ihn so liebgewonnen, dass ich ihn niemals hergeben werde, trotz vieler Aufforderungen ihn zu verdeutschen oder zu magyarisieren. Hans und János gibt es viele in Ungarn, aber Nelu kommt wahrscheinlich nur einmal vor. Ich weiß, Bescheidenheit ist eben nicht meine starke Seite. Aber was wären wir Minderheiten ohne dieses bisschen Selbstbewusstsein? Nomen est omen. So lebe ich nun mit diesem gemischten Namen, für viele ein Mischmasch, für mich eben mein Name.
Als ich dann 20 Jahre später als stolzer Student des berühmten Eötvös-Kollegium in Budapest mit einem japanischen Zimmerkollegen zusammenwohnte, stellte es sich heraus, dass mein Name Zeuge von einer vielverzweigten Abstammung ist. Sitosi, der japanische Student in Budapest, griff zum Rechner und stellte das Bild meiner Herkunft nach Prozenten dar: 50% deutsch, 25% ungarisch, 12,5% rumänisch, 12,5% serbisch. Eine meiner Großmütter hieß Fehér Mária. Mein Ebinger-Großvater, der Anfang der zwanziger Jahre als Viehhändler sein Glück in Südamerika versucht hatte, lernte in Montevideo diese Fehér Mária kennen, wo auch meine Mutter 1930 zur Welt kam. Serbisch war der Name einer meiner Urgroßmütter: Duganics. So steh’ ich da; in meinen Adern fließt viererlei Blut, mein Name ist zweisprachig, deutsch-rumänisch, seit 1980 bin ich ungarischer Staatsbürger, lebe in einem ungarn-deutschen Ort, Wudersch/Budaörs, bin dreisprachig, meine Muttersprache ist aber die Banater schwäbische Mundart. Kein Wunder, wenn ich mich nun bekenne: ein Mitteleuropäer deutscher Zunge bin ich. Es ist das elementarste Recht jedes Menschen, solch ein Bekenntnis abzulegen; und sicher bin ich nicht der einzige hier in der Mitte Europas.
Unsere Heimat, Mitteleuropa, was bedeutet sie nun? Geht man zuerst von der Sprache aus, so bestimmt die Areallinguistik dieses Gebiet als „Donau-Sprachbund“ mit folgenden Sprachen: Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch, Deutsch, Slowenisch, Serbokroatisch und die rumänischen Dialekte in Siebenbürgen. Was verbindet diese Sprachen, was haben sie gemeinsam? Das jahrhundertelange Zusammenleben führte zu solchen strukturellen Affinitäten wie Erstsilbenbetonung, Quantitätskorrelation der Vokale, geringe Rolle der Diphthonge in der literarischen Norm, Liaison, Existenz des Konsonanten h, reine, nicht reduzierte Artikulation der unbetonten Vokale, Stimmlosigkeit der Konsonanten am Wortende, im Auslaut, stark synthetische Strukturen mit vielen Suffixen, entwickeltes Verbalpräfixsystem, viele lateinische Lehnwörter. Die muttersprachliche Schriftlichkeit entfaltet sich aber erst im 19. Jahrhundert wegen der Vorherrschaft des Lateinischen und Deutschen. Wortbildung und Wortzusammensetzung sind im gleichen Verhältnis vertreten, die Zukunftsform wird oft durch das Präsens ausgedrückt, und vieles andere mehr. Die Spracherneuerung im 19. Jahrhundert ist, insbesondere im Ungarischen und Tschechischen hingegen stark puristisch. Die Sprache ist jedoch nur ein Spiegelbild der Denkweise, der Mentalität dieser Völker. So gibt es auch in der Kultur zahlreiche Affinitäten, Anähnlichungen, die zu vielen Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in der Mentalität und Weltbetrachtung führten. Außer Sprache, Kultur, Literatur, Philosophie sieht auch die Bauweise, die Architektur vieler Großstädte ähnlich aus; Wien, Prag, Budapest und viele andere mitteleuropäische Städte stehen Zeuge dafür.
Aber wie sieht es tief im Herzen, in der Gefühlswelt dieser Völker aus? Dazu hat vor allem die Literatur eine Reihe von bekannten Beispielen vorzuweisen, sprach- und kulturüberbrückende Autoren wie: Nikolaus Lenau, Ödön von Horváth, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Ferenc Herczeg, Miroslav Krleza, Paul Celan, György Sebestyén, Márton Kalász und viele andere. Ähnlich viele Namen könnte man auch aus der Musik, der Malerei und Bildhauerei nennen. Aber nicht nur im humanen Bereich, sondern auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, Medizin, Technik, Wirtschaft und natürlich der Politik wären unzählige bekannte Namen zu erwähnen.
Diese mitteleuropäischen Merkmale gehen natürlich auf die lange gemeinsame Geschichte, auf ein Zusammenleben von vielen Jahrhunderten zurück, wo oft aus dem Miteinander ein Gegeneinander wurde. All dies führte zu einer Hassliebe, von der die Gegenwart der mitteleuropäischen Völker gekennzeichnet ist.
Will man nun ein typisches Merkmal gesondert behandeln, so ist dies die unsymmetrische geographische Lage dieser Völker und Volksgruppen. Jedes Volk lebt zusammen mit Volksgruppen anderer Nationalität, meistens Minderheiten, die im Nachbarland das Mehrheitsvolk bilden, so dass eine Reihe von Sprachinseln entstanden ist, die an die ehemalige offizielle Vielsprachigkeit Mitteleuropas erinnern. In den nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Nationalstaaten leben überall mehrere Nationalitäten. Eine davon ist hervorzuheben, und zwar die jüdische, die Mitteleuropa ihren Stempel in allen Lebensbereichen aufgeprägt hat. Außer den Juden sind es noch die Deutschen und Ungarn, die heute als Minderheiten in allen Ländern Mitteleuropas leben.
Ist Mitteleuropa noch lebensfähig? Ich glaube, ja. Seine Zukunft liegt im „gemeinsamen Haus Europa“, dessen Konturen sich immer klarer abzeichnen und in dessen Mitte ein starker überbrückender Balken zwischen dem westlichen und östlichen Flügel des Hauses lebensnotwendig ist. So wie die ehemaligen „ewigen“ Feinde, die Deutschen und Franzosen, im westlichen Teil zu einer Miteinander gefunden haben, können es auch die Völker Mitteleuropas tun, die ja in dieser Hoffnung lässt grüßen mit Zuversicht
ein Mitteleuropäer aus Wudersch/Budaörs bei Budapest.
(im Januar 1989)
Interpretation
Der berühmte Essay Bekenntnisse eines Mitteleuropäers von Nelu Bradean-Ebinger ist im Band Egy közép-európai ember vallomásai / Bekenntnisse eines Mitteleuropäers im Jahre 2001 in Budapest erschienen. Bei der Analyse des Namens des Autoren wird dessen Bindung zu mehreren Kulturen deutlich: Nelu ist der Kosename des rumänischen Vornamens Joan (auf Ungarisch Janika, auf Deutsch Hans), der rumänische Familienname Bradean stammt von dem Wort „brad“ (Tanne) und Ebinger deutet auf die deutschen Ahnen hin. Der Autor, der aus einer Familie aus der Banat stammt, hat seinen Namen trotz der freundschaftlichen Ratschläge nie verändert: Er hat ihn weder magyarisiert, noch germanisiert. Sein Name klingt demnach in der ungarischsprachigen Umgebung mehrfach fremd, ist aber individuell und ein Leben lang zu einem Zeichen eines Minderheitendaseins geworden.
„Zu Hause rief man mich mal Hansi, mal Nelu, bis dann der letztgenannte im nun zu Rumänien gehörenden Banat zu meinem offiziellen Vornamen wurde. Seitdem steht er, dieser niedliche Kosename, der oft mit Nehru, Nero oder Nelli verwechselt wird, in allen meinen Papieren. Ich habe ihn so liebgewonnen, dass ich ihn niemals hergeben werde, trotz vieler Aufforderungen ihn zu verdeutschen oder zu magyarisieren. Hans und János gibt es viele in Ungarn, aber Nelu kommt wahrscheinlich nur einmal vor. Ich weiß, Bescheidenheit ist eben nicht meine starke Seite. Aber was wären wir Minderheiten ohne dieses bisschen Selbstbewusstsein? Nomen est omen. So lebe ich nun mit diesem gemischten Namen, für viele ein Mischmasch, für mich eben mein Name.“
Der Essay versucht die Mitteleuropäität durch biografische Bekenntnisse und durch eine kulturelle Identitätssuche zu bestimmen. Als definitives Zeichen dieser Mitteleuropäität erscheinen hier die mehrfache kulturelle Bindung, die Begegnung verschiedener Identitäten, die interethnischen Beziehungen und das System der multikulturellen Regionen. Bradean-Ebinger, alias BEN, der seit seiner Kindheit Gedichte schreibt, weist mit der Erwähnung von Nikolaus Lenau und Johann Schmitz bewusst auf die literarischen Wurzeln der multiethnischen Region Banat hin.
In der Identität des Narrators kann die deutsche Herkunft als dominant betrachtet werden, was durch die Erwähnung der Ulmer Schachtel im Text verdeutlicht wird. Die Donau, der einstige Verkehrsweg der donauschwäbischen Siedler, erhält an dieser Stelle wichtigere Bedeutungsinhalte und erscheint als ein Symbol der interkulturellen Kontakte. Der Essay versucht die Mitteleuropäität mit Hilfe der literarischen Überlieferung, der Herkunft, der mehrseitigen kulturellen Bindung und der geografischen Namen festzulegen. Im Gedankengang ist die kulturelle Bindung zur Gemeinschaft mit einem existenziellen Faden durchflochten. Der japanische Gaststudent, Sitosi stellt die Abstammungsprozente von BEN präzise dar: 50% Deutsch, 25% Madjarisch, 12,5% Rumänisch und 12,5% Serbisch. Die Verflechtung von Identitäten wird in der Erzählung mit gewisser Ironie betrachtet. Diese Stimmung wird auch durch die Darstellung der südamerikanischen Exkurse der Familie gesteigert: der Ebinger-Großvater hat die Großmutter mit ungarischer Herkunft, Mária Fehér, in Montevideo kennen gelernt.
„So steh’ ich da; in meinen Adern fließt viererlei Blut, mein Name ist zweisprachig, deutsch-rumänisch, seit 1980 bin ich ungarischer Staatsbürger, lebe in einem ungarn-deutschen Ort, Wudersch/Budaörs, bin dreisprachig, meine Muttersprache ist aber die Banater schwäbische Mundart. Kein Wunder, wenn ich mich nun bekenne: ein Mitteleuropäer deutscher Zunge bin ich. Es ist das elementarste Recht jedes Menschen, solch ein Bekenntnis abzulegen; und sicher bin ich nicht der einzige hier in der Mitte Europas”
Die komplizierte Beziehung zur Muttersprache, zur eigenen Kultur und zur Identität ist ein Grundmotiv des Textes Bekenntnisse eines Mitteleuropäers. Der Autor stellt die Frage „Unsere Heimat, Mitteleuropa, was bedeutet sie nun?“ und wechselt nach der selbstbiografischen und sprachlichen Wegsuche in historische, politische und kulturelle Dimensionen. Als Ausgangspunkt dient für den Sprachwissenschaftler Bradean-Ebinger die wissenschaftliche Beobachtung, dass die Sprachen des Donau-Sprachbundes (Ungarisch, Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Slowenisch, Slowakisch, Serbisch, Kroatisch und die rumänischen Dialekte von Siebenbürgen) neben ihren Verschiedenheiten durch das jahrhundertelange Zusammenleben dieser Völker über zahlreiche gemeinsame strukturelle und lexikalische Eigenschaften verfügen. Unter den Völkern der Region sind weitere Ähnlichkeiten in der Mentalität, in der Kultur, in der Weltanschauung, in der Sprache, in der Literatur, in der Philosophie und in der Architektur zu beobachten. Als symbolträchtige Städte der Region werden im Essay die drei Hauptstädte Wien, Prag und Budapest genannt, die die Charakterzüge dieser kulturellen Phänomene wiederspiegeln. Als Beispiele der mitteleuropäischen Interkulturalität gelten die Autoren, die Sprachen und Kulturen überwinden, wie Nikolaus Lenau, Ödön von Horváth, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Ferenc Herczeg, Miroslav Krleza, Paul Celan, György Sebestyén oder Kalász Márton. Ähnliche Beispiele können aber auch auf dem Gebiet der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Wissenschaften, der Wirtschaft oder der Politik erwähnt werden.
Nach Bradean-Ebinger besteht zwischen den hier lebenden Völkern eine historische Interdependenz. Diese Symbiose entwickelte sich aus der Dialektik des Zusammenlebens und der Streitigkeiten und ist mit einer Art von Hassliebe erfüllt. Ein definitives Zeichen der mitteleuropäischen Völker ist, dass sie alle mit verschiedenen Nationalitäten zusammenleben: In allen Ländern sind Minderheiten zu finden, die in den jeweiligen Nachbarländern die Mehrheit bilden. Der Essay entstand im Jahre 1989 als eine Art künstlerisches Bekenntnis. Er spiegelt die Wegsuche eines mitteleuropäischen Denkers zwischen den Sprachen und Kulturen seiner Region wieder. Das Werk versucht eine deutsche Minderheitenidentität in Mitteleuropa in einer übernationalen Dimension zu interpretieren. Zur Zeit der Wende wies der Text in die Richtung eines „gemeinsamen Hauses Europas“ hin.