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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Josef Michaelis: Heimat-los

Josef MichaelisHeimat-los

Noch einmal
besuchte er
die Kirche
alle Gräber auf dem Friedhof
sein Elternhaus
in der unteren Gasse
Ging dann
schon als Fremder
durch die Straßen


Jacobus
mein Vorfahr
und seine Frau Katharina
mit drei Kindern
aus Ubstadt bei Bruchsal
nach Ungarn
genau vor 250 Jahren
an jenem im Veilchenduft
erwachenden Frühlingstag

(2001)

 

Interpretation

Schon die doppeldeutige Überschrift Heimat-los des Gedichtes von Josef Michaelis verweist auf die Aufbruchssituation der Vorfahren, auf den Schwellenzustand, wo Jacobus mit seiner Familie von seinem alten Zuhause Abschied nimmt, und die so „heimatlos“ Gewordenen in die noch unbekannte neue Heimat losfahren. Der zweiteilige Text berichtet zuerst in lapidarer Erzählform von dem letzten Besuch des Familienhauptes in der Kirche und dem Friedhof. Die Bemerkung „schon als Fremder“ deutet die endgültige Trennung vom Heimatort, die wohl schwere und schmerzhafte Entscheidung an. Die Wirkung der wortkargen Darlegung dieses außergewöhnlichen Ereignisses besteht vor allem in dem in medias res-Beginn, mit dem die rituale Abschiedsszene lebendig gemacht wird. Erst im zweiten Textteil benennt dann das lyrische Ich, der Chronist der Familiengeschichte den Namen der Ansiedler-Ahnen und den Zeitpunkt der Auswanderung: „genau vor 250 Jahren / an jenem im Veilchenduft / erwachenden Frühlingstag“. Das einzige Attribut im ganzen Gedicht („im Veilchenduft / erwachenden“) feiert mit schlichtem Blumenschmuck den Jubiläumstag.