Robert Becker: Ungarndeutsche Ballade
ich will euch nun erzählen
von einem Volk die Mär
das runter ist gefahren
die Donau bis zum Meer
mit Hoffnung schwer beladen
die Seele tief gerührt
so zogen sie gen Süden
vom Kreuze angeführt
gefolgt sind sie dem Rufe
Land und Flur bebauen
das Ungarn neu zu jäten
Wildnis rauszuhauen
da drunten an der Donau
fing unser Schicksal an
betrübt ergriff es alle
bis auf den letzten Mann
erst kamen harte Jahre
wo Hunger uns gezählt
der Tod im blinden Gleichmut
hat viele ausgewählt
doch in des Herren Weinberg
gab es für uns Gnade
frohlockt hat jeder Winzer
wenn die Lese nahte
ruhmvoll wir hervorgebracht
der Gelehrten viele
edle Künste aller Zeit
waren uns're Ziele
wir hielten auch zum Lande
stets treu und immerfort
doch mussten wir erfahren
hier stört das deutsche Wort
so sollten wir bald gehen
mit leerem Bündel aus
das Brot nicht mehr vertilgen
und lassen Hof und Haus
nur mancher blieb in Ungarn
ohne es verschuldet
Jahrzehnte sind vergangen
bis man jetzt uns duldet
die Alten sind schon rüber
es folgt kein neues Glied
gar einsam ist der Sänger
verstummen soll sein Lied
Interpretation
Aus einer ganz anderen Perspektive wird die Ahnengeschichte von Robert Becker in seiner Ungarndeutschen Ballade erzählt. Während bei Hecker der „Wurzelschlag“ auch als emotional nach- und mitgefühlte Realität der Ankunft und Heimatsgebundenheit dargestellt wird, schreibt Becker die „Chronik“ seines Volkes aus der düsteren Sicht der unmittelbaren Nachkriegserfahrungen. Dieser Blickwinkel bestimmt nicht nur die bitter elegische Tonlage des ganzen Textes, sondern auch dessen pessimistischen Ausklang. Mit feierlich archaisierenden Gebärden des Heraufbeschwörens und in klassischer Metrik mit jambischem Versmaß werden hier die entscheidenden Ereignisse und Momente von mehr als dreihundert Jahren in Erinnerung gerufen. Beinahe katalogartig zählt das lyrische Ich die historischen Errungenschaften und Ergebnisse der Siedlungsgeschichte des Ungarndeutschtums auf. Die heldenhafte Arbeit, mit der das ungarische Brachland bewältigt wurde, die hervorragenden Künstler und Gelehrten, die (auch) die ungarische Kultur bereichert haben. Von Loyalität und Treue ist dann die Rede, auf die nur undankbare Abweisung und Diskriminierung die Antwort waren. Im Schlussteil erscheint wieder der Dichter – dieses Mal nicht mehr als Ich-Erzähler, sondern als letztes Glied seines aussterbenden Volkes.