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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Ludwig Fischer: Auf weiten Wegen

Ludwig Fischer: Auf weiten Wegen

 

Der alte Mann hatte eine Stimme, wie eine verrostete Dachrinne, eine abgewetzte Ledermütze und wackere kleine Augen.

„Komm nur schön! Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Überhaupt brauchst du dir keine Sorgen zu machen, das kann ich dir schon sagen. Mit mir, mit dem alten Gustl hast du dein Glück gemacht. Das will ich dir schon sagen, wenn du auch gleich nur ein Pferd bist. Mit dem Gustl bist du schon aus dem Wasser, Sári. … Bist aber ein Prachtstück! So einen Fuchs hatte ich mir schon immer geträumt. Mensch! Sei mir aber nicht böse, dass ich so herumbrumme. Keine Ahnung, wo wir hinwollen? Was? Wenn du auch nichts sagen kannst, weiß ich, dass du… weiß, der Gustl hat Augen! In die Ziegelei wollen wir. Nicht mehr so weit. Bals ist es so weit. Die Ziegelei! Ich bin schon fünf Jahre in der Ziegelei. Auch etwas. Na ja, fünf Jahre. Ich fahre die Ziegel mit der Lore in den Brennofen. Nicht schwer. Da rollt alles auf Gleisen. Ich schaffe da jeden Tag 40 000 Ziegel in den Brennofen. Der Chef hat mir versprochen, dass du nicht in die Lehmgrube kommst. Er hat es mir dort auf dem Markt versprochen, als er dich gekauft hat. Weißt, der Mann mit dem Auto. Ich werde schon sorgen für dich. Du kommst nicht zu den Teufeln dort in der Lehmgrube. Die prügeln alle Pferde kaputt.”

Im Tal erblickten sie das weite Gelände der Ziegelei. Oben das Blaugrün eines Waldes.
Gustl brachte das Pferd zu einem alten Gebäude.

„Der Stall. Na, schön, Sári. Da wollen wir jetzt hinein. Mach doch keine Komplimente! Wir sind schon an Ort und Stelle. Ich werde dir gleich etwas heu bringen, etwas Wasser. Der Gustl weiß auch prima Heu. Ich werde dir Kleeheu bringen. Wie Tee. Die werden sich morgen große Augen machen. So ein Prachtstück! Hast noch keine Ziegelei gesehen? Das glaub ich dir schon. Na komm schön – habe schon gestern frisches Stroh gestreut.“

Das Pferd stand im Eingang. In seinen großen Augen war noch etwas Licht. Auf die Ziegelei rieselte leise die Dunkelheit.

Es wollte mit all seinen Sinnen in die Ferne horchen. Da war ja alles so fremd. Nichts war vom Geruch der Bauernhöfe da, nur Stroh, wo ist aber der Geruch, der warme Geruch der Hofes geblieben. Da ist alles so unheimlich still, keine Katze, kein Hund, hin und wieder eine ferne metallne Stimme… wo sind sie alle geblieben?

„Komm, Sári! Ich muss noch mit meinem alten Fahrrad ins Nachbarsdorf. Ich werde dir auch Würfelzucker mitbringen. Das werde ich. Du wirst’s schon mit dem Gustl schön haben. Du und ich! So ein Pferd!“

Er packte es wieder am Zügel.
Das Pferd wartete lange.
Durch das staubige kleine Fenster spähte schon der Mond in den engen Stall.
Und das Pferd wartete noch immer.

Den kleinen Alten hatte es schon längst vergessen. Ihn schon. Was soll der kleine Stall da mit dem Rummel; Wo sind sie alle geblieben? Wo? Sie müssen, sie werden kommen, um es abzuholen. Es wollte nicht schlafen, nur warten. Das Pferd wartete auf die bekannten Schritte. Auf das Lächeln in der Stimme. Na Sári, gehen wir? Komm mein Fuchs, wird er sagen. Wo bleibt aber Franz. Franz, Franz, wie klingt das auch so schön. Sein Herr ist der Franz! Nicht einschlafen! Es spitzte die Ohren. Es wollte nicht einschlafen nur auf die bekannten Schritte wollte es warten. Ein leichter Schlummer verwischte aber nach und nach den Rummel, den kleinen Stall, das kalte Gelb des Mondes, auch die stille verwischte das Schlummern mit der Zeit. Zuerst vernahm es das freudenvolle Bellen. Waldi! Was will den Waldi mit seinem Bellen? Es zuckte ihm durch den ganzen Körper. Es war, als wären sie draußen auf dem Feld. Jeden Schollen hatte Sári im Sinn. Auch die alte Weide im Wegesrand. Das Rauschen der Kukuruzfelder, das Wogen der weiten Ährenfelder, ihren Wagen im Schatten der Weiden. Das leichte Schlummern brachte Sári nach Hause… als hallte der Ruf aus unendlicher Weite… Sári… Sári…Sári! Dann hörte es wieder nur noch die stille warme Stimme. Sári, mein Fuchs, gehen wir? Wollen wir nach Hause gehen? Es zuckte nur im Schlaf. Fahren wir, mein Fuchs? Und am Rande der Träume waren die Wege. Die nach Hause. Die Wege vom Kukuruzfeld, die Wege aus dem Wald, aus dem Weingarten … alle Wege führten nach Hause, durchs offene Tor in den Hof. Die langen Wege und die kurzen, die nassen und die staubigen, die Wege bei Tag und bei Nacht… alle sie führen nach Hause, in den Hof, wo alles bekannt ist, die Bäume und der Brunnen. Da hat alles seine bekannte Form, Farbe, den bekannten Laut, Geruch… bald werden sich auch die bekannten Schritte nähern. Es wollte nicht einschlafen, es wollte auf die Schritte warten. Sie werden auf dem langen Weg nach Hause kommen… Sie werden es, Waldi wird voller Freude im Hof herumjagen, man wird es in den Stall führen… Schön, Sári und am Morgen geht’s dann wieder hinaus auf das Feld. Nur die Stille, die endlose Stille der Nacht! Es wollte die bekannten Schritte hören! Sári, ich komme schon. Die Stille! Das Warten wurde immer mehr zur Unruhe. Es erinnerte sich an den Morgen. Was sollte der Morgen? Warum kamen sie alle zum Stall? Sie hatten was in ihrem Blick, in der Stimme.

Aber was?
Der Mond spähte kalt in den kleinen Stall.
Das Pferd horchte nicht mehr in die Stille. Es war schon zu müde.
Aus der Ferne brachte eine leichte Brise das Gebell eines einsamen Hundes.

Das Pferd vernahm kaum noch das ferne Bellen. Der Schlaf führte es zu den Wegen, zu den langen Wegen, zu den unendlich langen Wegen, zu den Wegen, die alle nach Hause führen. Diese Wege führen an den Kukuruzfeldern vorbei, sie führen an den Weingärten vorbei. Man ruft ihnen nach, man winkt ihnen zu, doch hört es nur noch ein leises Rufen. Fuchs, mein Fuchs! Wo bist du denn geblieben, Sári? Und die Kukuruzfelder rauschen, die Weingärten sausen, der Wald läuft ihnen zu, die Häuser laufen an ihnen vorbei, dann hört es auch das freudige Gebell Waldis…

Müde zuckte es im Schlaf.
Der Mond beleuchtete die Ziegelei mit einem gelblich fahlen Licht. Weit in der Nacht bellte ein Hund.
Waldi saß vor dem leeren Stall. Er wartete auf das Pferd.

„Du warst so lange, Franz!“

„Lange! Bis man da alle Formalitäten erledigt und zu seinem Geld kommt!“

„Weißt, ich hoffte noch immer. Ich meinte, du wirst Sári nicht verkaufen.“

„Schön.“

„Franz! Du verstehst mich nicht. Sári war uns allen ans Herz gewachsen. Sei mir nicht böse, aber wie uns das arme Tier am Morgen dort vor dem Stall mit seinen großen Augen anschaute. Als wollte es fragen.“

„Fragen!“

„Als wollte es fragen, warum tut ihr das. Warum wollt ihr mich…“

„Schon wieder diese Übertreibung.“

„Warum muss ich…“

„Das Pferd fragte nichts.“

„Ich habe noch immer seine traurigen Augen vor mir.“

„Traurig oder nicht traurig. Hat nichts zu sagen. Das Pferd musste verkauft werden.“

„Als hättest du mit Sári unsere schönsten Jahre aus dem Hof, aus unserem Leben geführt. Heute war mir alles so leer.“

„Nimm das Geld da!“

„Unser Judaslohn.“

Sie schauten still vor sich hin. Starrten in die Nacht hinaus.

„Wir hatten keinen Ausweg, Rosi. In der Stadt hat jeder Heller seinen Platz. Wollen wir in der Stadt Fuß fassen, müssen wir jetzt noch aufbrechen. Und es wird sich schon alles fügen.“

„Und wer hat Sári gekauft? Wo ist unser Fuchs?“

„Eine Ziegelei.“

„Ziegelei? Du meinst eine Ziegelei? Da werden diese armen Teufel so richtig verprügelt. Die werden unser Sári zum Tode quälen.“

„Wo kann man heute noch Pferde loswerden? Die Bauern lassen ihre Pferde auf dem Markt stehen. Was sollten wir mit dem Ross anfangen? Und so hast auch noch etwas Geld.“

„Ist das nicht unmenschlich?“

„Wenn wir unsere Dörfer verlassen wollen, müssen wir auch Bindungen, Erinnerungen, Gefühle zurücklassen… und dazu braucht man auch Geld.“

Müde erwachte das Pferd aus seinem Schlaf. Vor dem Stall was schon ein reges Hin und Her.

„Guten Morgen! Der Gustl ist schon da. Gut geschlafen, was? Das glaube ich! Und guck mal, was dir der Gustl gebracht hat! Na? Würfelzucker! Ich schnappte ihn noch am Abend. Nimm doch! Prima so ein Würfelzucker. Willst nicht? Hast auch Recht. Ich werde dir erst Futter bringen. Wasser und dann haben wir ja mit dem Zucker noch Zeit. He, he. Der Tag ist lang. Wir beide werden‘s aber schon schaffen. Werden die auch große Augen machen! Ich werde schon sorgen für dich. Keine Angst! Das kannst du mir schon glauben. So ein Prachtstück! Jetzt kommt aber erst das Striegeln. So. So schön. Auch die Mähne da. Da wird jetzt etwas Ziegelstaub dazu kommen. Wirst schon sehen. Da wird aller rot von dem herabrieselnden Ziegelstaub. Wir werden's aber schaffen. He, he. Warum willst du nicht fressen? He? Hafer, Mensch. Prima Heu. Klee. Du wirst doch nicht traurig sein, Sári. Nicht traurig sein! Wasser. Auch nicht?“

Sári spitzte nur die Ohren. Horchte in die Ferne.

„Dann bringe ich dein Geschirr. Hat nichts zu sagen. Ich bringe dein Geschirr und wir machen uns auch an die Arbeit. Ich muss dir auch noch etwas Fachkenntnisse beibringen. da bist du kein Bauerspferd mehr. Nee. Wir sind da alle Industriearbeiter. Du bist da auch Industriearbeiter in der Branche Ziegel. Prima, was? Arbeitsbeginn um sechs, Arbeitsschluss um sechzehn. Schön, was? Jetzt habe ich dir alles erklärt. Deine Bauerskollegen plagen sich noch auf den Feldern, sich führt der alte Gustl um sechzehn in deinen Stall und du kannst dich deinen Gedanken überlassen… So. Jetzt wollen wir mal sehen. So. Komm, schön, Sári… Vor diesem mächtigen Schornstein brauchst sich nicht zu fürchten. Der steht schon fest.

„He, Gustl! Hast’s ja heut so eilig! Lass doch das Ross da etwas angucken.“

„Schön, was?“

„Wenn man an diese Klepper da in der Ziegelei gewöhnt ist. Mensch, ein prächtiger Fuchs! Ein prächtiges Pferd.“

„Es hat nicht wenig Geld gekostet. Gestern haben wir es mit unserem Chef gekauft.“

„Prächtig. Ein schönes Bauersross. Da hat man schon auf dem ersten Blick.“

„Von einem Schwäbischen.“

„Die haben prima Pferde. Und die wollen jetzt Haus und Hof loswerden und in die Städte ziehen!“

„Auf dem Markt hast du an jeder Ecke einen Schwaben mit einer Kuh oder einem Pferd. Der hat für den Fuchs da ein schönes Geld bekommen.“

„Die wollen jetzt nur in die Stadt. Und das Pferd jagt er in die unbekannte Fremde. Oder meinen diese Leute, dass die Ziegelei ein Erholungsheim sei? Da arme Tier ahnt es nicht einmal, welch Schrecken es da erwarten.“

„Der Chef hat mir versprochen, dass der Fuchs nicht in die Grube kommt.“

„Versprechen kann man schon. Schau dir das schöne Pferd an, Gustl! Die Augen, den stolzen Kopf. Schön bist du, schön. Brauchst dich nicht zu fürchten. Wir meinen es gut mit dir. Wie heißt das Pferd?“

„Sári.“

„So, Sári.“

„Józsi, hättest etwas Zeit für uns?“

„So, schön Sári. Hast schon bemerkt, als warte das Pferd? Als erwarte es jemanden.“

„Ich will Sári Unterricht erteilen. Es war ja bis jetzt nur vor einen Bauerswagen gespannt. Ich will dem Pferd zeigen, wie man die volle Lore in der Kurve ziehen muss, dass das volle Zeug uns nicht über die Gleise springt.“

„Ich verstehe schon, Gustl. Hast schon Recht, Alter. Ich werde mich hinten auf die Lore stellen und die Bremse handhaben, du führst das Pferd. Hast schon Recht.“

„Schön, Sári. Komm, komm! Siehst, das das sind da die rohen Ziegel. Da werden sie getrocknet. Die fahren wir mit der Lore in den Brennofen. So, so. Stell dich nur schön da vor die Lore. Den Schwengel. So. Hat nichts zu sagen. So. Wirst schon sehen, das ist kein holpriger Dorfsweg. Wir werden’s schon schaffen.“

Das Pferd zog an. Gustl führte es, Józsi stand hinten auf der Lore mit der Bremse in der Hand.

So führte es vor Jahren Rosi vor dem Pferdpflug durch das Kukuruzfeld, durch die Rübenreihen. Gustl trottete in seinen großen Gummistiefeln zu Seite, Sári roch in die Weite. Es vernahm die Dufte der Felder. Dort kannte es schon jeden Busch. die einsamen Akazienbäume, die alten Weiden, das Fern und das Nah. … Jeder Weg hatte etwas zu sagen, Sári hatte alle Wege in den Sinnen. Die weiten und die nahen, die nassen und die staubigen. Der Frühling setzte immer frische Gräser an die Wege. Der Herbst wehte schwere Regenschauer über die Wege … doch führten sie alle in den Hof, wo Waldi auf sie wartete. Im Hof war alles froh, der Hund, die Katzen, die Hühner, die Enten. Im Gleisbogen war immer ein schneidendes Geknirsch und Geknarr.

Gustl stand stolz hinten auf der Lore. Sári musste man nur einmal den Weg zeigen.

„Halt, Sári! Da können wir uns schon ein wenig ausschnaufen. Guck mal, was ich da für dich zu Hause geschnappt habe. He? Würfelzucker! Willst noch immer nicht?“

Sári schaute traurigernst auf den kleinen Mann herab.

„Zucker?“

Was soll denn das?
Was?
Das Geklirr, der ständige Lärm?
Kommt er noch immer nicht?
Franz? Kommt Franz noch immer nicht?
Es schaute hinaus auf die Landstraße. Das stille Warten wurde immer mehr zum Schrecken.

In den großen Augen des Pferdes wurde aus allem nur noch Verlassenheit und Einsamkeit. aus Gustl, aus den Gleisen, aus den unendlich vielen rohen Ziegeln, aus dem fahlem spätsommerlichen Blau des Himmels.

„Du hast’s schon gut, Sári! Das kann ich dir schon sagen. Hast’s besser als ich. Willst nicht meinen Zucker. Weißt du, was mir der Zucker da List kostete? Du kennst nicht meine Frau. Wenn du wüsstest, was ich da List aufbringen musste, bis ich an den Zucker kam. Du kennst nicht Kati, meine Frau. Leider habe ich’s nicht so leicht, wie du. Marschierst nur so zwischen den Gleisen fort. Du hast ja einen Gustl, der sich kümmert, dass du es schöner hast. Na ja. Wer wird mir Zucker, oder sagen wir etwas Schnaps schnappen? He? Na, hat ja nichts zu sagen. Los geht’s Sári, die Lore ist leer.“

Von den Feldern wehte eine leichte Brise den herben Duft der Kukuruzfelder an der Ziegelei vorbei. Gustl stand hinten auf der Lore, die auf en gleisen leicht dahinrollte. Still rieselte roter Ziegelstaub auf Bäume, auf das welke Gras, auf Gustl und aufs Pferd. Leicht rieselnd, knisternd … hie und da kreischten die eisernen Räder auf den Gleisen … Das Pferd wieherte in die Weite, es vernahm den Gruß der fernen Kukuruzfelder, das saftige Rascheln der Kukuruzfelder, die Brise erinnerte es an die Ferne, wo alles watet … die Wege, die Maulbeerbäume an den Wegen, das Gras an den Wegen, die herbstlichen Feldblumen, der Hohlweg mit seinen Büschen und Sträuchern. Sie erwarten es alle. Die Vögel und auch die Bienen auf den fahlen Blumen, das herbstliche Schimmern der Felder, die Schatten. Alle warten sie … Nur Franz kommt noch immer nicht. Noch immer nicht! Am Morgen wartete es noch, spähte in die Ferne, spähte hinaus auf den Landweg, es meinte, man wird des Weges kommen, man wird sich zur Lore stellen. Da bin ich, Sári! Man wird es ausspannen. Das ferne Bellen erinnerte es an Waldi. Wenigstens Waldi! Der sollte da vorbeikommen, der zottige Waldi. Der kennt alle Wege. Am Hohlweg werden schon die Büsche bunt. Die Büsche nehmen schon ein blasses, Gelb und Rot an. Sári ging mit dem eisernen Rollen hinter sich zwischen den Gleisen. Knisternd rieselte das Rosa des Ziegelstaubes.

Die Sonne meinte es immer wärmer.

„Siehst, du Sári, das schöne Wetter sollte andauern. Das prima Wetter. Dir kann es ja völlig egal sein. Was hat es für dich zu sagen? Du schreitest da vor der Lore dahin, am Nachmittag bringe ich dich wieder in deinen Stall, bekommst dein Futter und kannst dich ganz gemütlich deinen Gedanken hingeben. Das kannst du schon. Gustl hat’s aber nicht so schön. Das kann ich dir schon sagen. Ich muss noch mit der Kati, mit der gnädigen Frau hinauf in den Weingarten. Na ja. Was den Weingarten betrifft … das tue ich schon gern. Weißt, am schattigen Weinstock wächst jetzt der Wein. Ein Gläsel Rotwein. Die warme Herbstsonne meint es schon schön mit den Beeren.“

In der Lehmgrube entledigte man sich der Hemden und Hosen. Man freute sich über das warme Herbstwetter.

„Na siehst du, jetzt haben wir auch noch etwas Zeit zum Ausschnaufen. So. Schön, Sári. Etwas Pause. Ich werde dir mal etwas Heu holen. So. Ich habe dir da die Bremse angezogen. Jetzt kannst ruhig stehen. Die Lore kommt nicht los. Feines Kleeheu wird dir der Gustl bringen.“

Sári schaute ihm traurig nach.
Unweit der rostigen Gleise hatte man einen zerzausten Zwetschgenbaum.
Sári hatte es immer mehr mit der Frucht zu tun. Es wollte, Gustl wäre schon da.
Es wieherte Gust nach.
Es spitzte die Ohren.
Auf einmal wurde alles still.
Die Maschinen der Ziegelei kamen zur Ruhe.

„Stromausfall!“

„Géza, lass das Zeug, Stromausfall.“

„Das Ross? Lassen wir das Ross da stehen?

„Was kümmerst du dich um Dinge, die gar nicht an dir liegen?“

„Ich komme schon, Mensch!“

Oben stand das Pferd am Rande der Lehmgrube. Ein voller Kippwagen. Einsamkeit. Erwürgende Traurigkeit. Der Schimmel schaute nicht den dahineilenden Leuten nach. Die großen Augen hatten eine gläserne Leere. Voll von Wunden und voll mit dicken Fliegen auf den Wunden stand es vor dem Kippwagen. Das rechte Auge hat man ihm mit einer dumpfen Schaufel zerschlagen, das linke mit einem scharfen Stein ausgeworfen… Der Schimmel schaute schon lange nicht mehr hinab zur Landstraße. Er wartete nicht mehr und wollte auch nicht auf die weite Straße. Im Schlaf, da zuckte es manchmal durch seine Glieder, als wäre er auf dem weiten Weg, als hätte er das Laufen, das Dahinsausen um sich, als zöge ihn die Ferne… manchmal war es ihm, als ruhe eine Hand auf seinem Hals… Was hat man dir denn angetan, Manci? Die warme Hand! Die Hand eines Menschen! Aus der Ferne, aus dem Traumbild der Ferne hörte der Schimmel die Stimme, aus der Verwischtheit der langen Monate schimmerte ihm die Blondheit eines Mannes zu. In der Nacht der Qualen hörte er, wollte er die Stimme hören. Manci! Komm mein Schimmel, was hat man dir denn angetan? Der blonde Mann legte er seine warme Hand, ja auf die tiefen Wunden legte er seine warme Hand. Das Pferd zuckte zusammen. Aus seinen leeren Augen quoll es nass … es wollte den schweren Kopf heben, es wollte in die Weite horchen… doch war es nur der Mond, der still in den Stall spähte.

„Habt ihr gesehen? Der Gustl hat ein neues Pferd.“

„Nicht schlecht.“

„Ein prima Fuchs.“

„Kommt, machen wir uns den Stromausfall zum Nutzen! Man hat uns noch etwas Zwetschken auf dem Baum gelassen.

„Das ist auch ein Schwabenpferd. Die Leute verstanden es, wie man mit Vieh umgehen muss.“

„Kommst mir schon wieder mit deinem tollen Quatsch! Wir haben für solche Dinge keine Zeit. Da muss produziert werden und basta! Was willst du nur immer mit deiner Duselei? Wenn du was verdienen willst, muss auch geleistet werden.“

„Ist schon klar. Der Fuchs ist doch ein schönes Pferd.“

„Kommt auch in die Grube. Wird nicht so lange dauern und den Fuchs haben wir in der Grube. Das kann ich dir schon sagen. Mit dem Wrack dort oben geht es ja bald dem Ende zu.

„Komm doch Mensch! Jani, wollen wir uns nicht über die Zwetschken hermachen?“

Sári überkam eine lehmende Furcht.

„Was glotz mich so an? He? Du hast noch ganz große, glänzende Augen. Das hast du noch, du Mistvieh!“

„Jani, komm doch!“

„Du weiß noch nicht wer der Jani ist, wirst es aber bald haben. Ich werde dir schon den Stolz aus den Augen jagen. Das verspreche ich dir, du Mistvieh!“

Er wollte dem Pferd ins Auge spucken. Sári stand still vor der Lore, als weinte es vor sich hin.

„Guckt mal, Leutchen, das Vieh da hat keine Ahnung, wer ich bin. Was starrst mich denn so an? Willst auch noch vielleicht zubeißen?“

Jani nahm einen Ziegel in die Hand.

„Dass du dich an mich erinnerst!“

Sári wieherte in die Ferne. Es wieherte schmerzvoll. Alle sollen sie es hören. Die Wege, die weiten Wege, der Hof am Ende der weiten Wege, der Stall, Waldi, Franz, Rosi. Alle sollen sie es hören. Das Pferd wollte los, doch stand die Lore fest.

„Dass du dich an den Jani erinnerst!

Er wollte das rechte Auge treffen.
Sári schaute zitternd auf das verschwitzte rote Gesicht.

„Willst auch noch los? Schaut mal, der Fuchs will losfahren.“

Er suchte einen Stock.

„Na los, los! Willst noch los?“

Die Männer kamen alle zurück.

„Der Jani versteht schon sein Handwerk.“

„Mensch, das Ross macht uns noch das Geschirr kaputt!“

„Ich werde gleich da das Mistvieh kaputt machen.“

Er versetzte dem Pferd einen mächtigen Schlag.
Sári röcherte, wollte sich auf die hinteren Beine stellen, fiel aber auf die Knie.

„Auf, auf, die Mistvieh! Ich strecke das Ding zu Boden.“

Sári konnte nur noch mit müde aufstehen.

„Wisst ihr, wie mein Alter diese Biester auf die Beine brachte? Mein Alter war im Pferdewesen Spezialist.“

Seine Augen zuckten gelb im verschwitzten Gesicht.

„Feuer legte der Alte unter das Biest. Fenomenal, was? Mir reicht auch mein Prügel. Glaubt ihre das?“

Aus den Nüstern des Pferdes tropfte Blut.
Jani hob den Prügel.
Sári wollte sich vor Furcht auf die hinteren Beine stellen. Jani schlug mit teuflischer Wut zu.

„Willst noch? Brauchst noch? Ich mach dich zum Wrack, du Mistvieh!“

Sári machte einen entsetzten, verzweifelten Ruck. Das Leder des Geschirrs ging in stücke, alles ging in Stücke.
Jani wollte dem Pferd mit einem Spaten noch einen Schlag versetzen, doch traf der Schlag nur noch die Lore.

„Du Vieh! Die Fahrräder! Rasch die Fahrräder herbei! Alles auf die Räder, wir werden das Vieh bald erwischen!“

Gustl kam aus dem Hof der Ziegelei mit Heu im Arm.

„Was habt ihr gemacht? Was habt ihr mit meinem Fuchs gemacht?“

„Wir? Alter Tölpel! Hast das Ross allein gelassen und das hat sich den Reiß aus genommen.“

„Nee.“

„Schwatz doch nicht, Alter! Sei froh, dass wir dir helfen wollen.“

Das Pferd machte auf der Landstraße halt.

Dicker Staub. Steine der abgewetzten Straße. Maulbeerbäume. Das Blut sickerte ihm salzig in das Maul. Es blickte nicht mehr zurück, nur auf den weiten Weg in die Ferne.

Dann ging’s los!
Aus der Ferne näherten sich Kukuruzfelder.
Alles näherte sich dem Pferde.

Pferdewagen wurden immer größer. Pferde und Wagen. Leute auf dem Wagen. Die Maulbeerbäume sausten vorbei. staub und Steine spritzten in die Höh. Man stellte sich auf den Weg, man winkte, Hunde jagten ihm nach, Kirchtürme tauchten aus der Ferne auf, Häuser, weiße Häuser liefen ihm zu, man stellte sich quer auf die Landstraße, Sári hatte aber nur noch das Jagen in den Gliedern. Himmel und Erde rutschten ineinander, Sári hatte nur noch das Dröhnen und Pfeifen des weiten Weges. Es vernahm nicht mehr das Brennen seiner Wunden, es wollte nur nach Hause, es wollte wenigstens bis ans Tor … auch hinein in den Hof, wollte sich unter den Birnbaum stellen dort am Brunnen. Schaut, was sie mir angetan haben … Das Sausen wurde immer mehr zu einem hohlen Rauschen. Nach Hause! Weg von da! Nach Hause! Die Maulbeerbäume flatterten vorbei. Alles dröhnte, alles flatterte … alles … die Luft wurde immer schärfer … dann bog das erschöpfe Pferd mit einem Sprung in Richtung Kukuruzfelder ein. Was soll das? Was will denn das alles? Es stand allein auf einem Kukuruzfeld. Wo sind sie denn alle? Franz, Rosi, Waldi? Sári meinte, es wäre ihr Kukuruzfeld. Es hob nicht mehr den Kopf mit den traurigen Augen, mit den blutigen Nüstern. Auch die Ohren spitzte es nicht mehr. Eine unendliche Stille umgab es. Es wollte nicht mehr laufen, nur stehen. Es wünschte sich eine leichte Brise. Das wollte Sári, das Pferd. Dann platzte ein Schrei in die Stille.

„He Jungs! Ich habe das Ross!“

Sári stand still. Es wollte nichts mehr. Nur stehen.

„Das Ross! Jani, dort steht das Ross.“

Bald standen sie mit ihren Fahrrädern alle dort.
Jani brachte sein Fahrrad in den Graben.
Er stellte sich vor das Pferd.
Sári schaute nicht auf.

Jani versetzte einen dumpfen Schlag auf das rechte Auge des Pferdes. Er schlug mit der Faust, mit seiner schweren Faust. Sári stand still, nur ein Jämmern war zu hören. Als wäre es das bittere Weinen eines Mannes. Ein schluchzendes Weinen aus der Ferne.

Aus dem rechten Auge des Pferdes quoll Blut.
Dann führten sie das Pferd zur Landstraße.
Sári wollte in die Ferne schauen, in die Richtung, wo das Dorf ist, wo sie alle sind.

„Der Fuchs haut uns noch ab.“

„Der nicht. Los, du Vieh! Hoch mit deinen faulen Beinen! Los!“

Nach zwei Stunden brachten sie das Pferd aufs Gelände der Ziegelei zurück.

An so manchen Abenden, wenn das schwere Nass der Nebel in den Gärten liegt, und der Nachtwind sich an die Fenster legt, in der Nacht, wenn schon das blauliche Flimmern der Fernseher hinter den Fenstern der Nachbarswohnungen erlöscht, in den langen schlaflosen Nächten horche ich in die Nacht, in die weite, unendliche Nacht. Was soll das Unwetter schon wieder? Was das Ächzen und Stöhnen? Man liegt still und horcht hinaus in die unendlich lange schlaflose Nacht. Das Toben des Windes wird zu einem Sausen und Rauschen, ja als kämen da die Hunde, unsere Hunde, all unsere Hunde und die Pferde vorbei. Wisst ihr noch, wie wir sie alle in unseren Dörfern gelassen haben. Alle haben wir sie gelassen, die kleinen und die großen, die traurigen und die wacker dahinlaufenden, alle haben wir sie gelassen … Wer dachte noch damals vor dreißig, vor fünfunddreißig Jahren an die Hunde, an die Pferde? Wer dachte an die Hunde, die auf uns warteten? Man hat sie verprügelt, man ha sie verjagt … sie saßen traurig unter den Bäumen, sie horchten immer trauriger in die Weite. Sie warteten Tag und Nacht, Tag und Nacht warteten sie auf uns. Sie liefen den Leuten nach, liefen durchs Dorf, auf unsere Felder liefen sie. Sie warteten hungrig, nass, mit einer tiefen Trauer in den Augen, mit der herannahenden Furcht in den Augen, mit der Erinnerung an uns hockten sie dort unter den Bäumen, jämmernd, winzelnd heulten sie. Ich liege schlaflos in der Nacht. Tobt der Wind? Macht das der Wind? Das Winzeln und Heulen? Oder wären es die Hunde und die Pferde, die Pferde und Hunde, die wir … ja, die wir gelassen haben, die Traurigen und die Wackeren, alle haben wir sie gelassen!

In den unendlich langen schlaflosen Nächten weiß ich, dass sie uns noch immer auf der Spur sind. Ich vernehme ihr Winseln, ihr erbärmliches Winzeln. Sie hetzen sich auf den weiten Wegen nach uns.

Wäre es nur der Wind, der sich ächzend ans Fenster legt?

Nein!

Die Pferde und die Hunde, die da hastig vorbeikommen.

Auf der Suche nach uns.

 

Ludwig Fischer: Auf weiten Wegen

Interpretation

Die Erzählung von Ludwig Fischer Auf weiten Wegen ist der Titelgeber des gleichnamigen Erzählbandes. Die Novelle erzählt die Geschichte des Pferdes Sári, das von seinem Besitzer einer Ziegelei verkauft wird. Die Mitglieder der schwäbischen Familie, Franz und Rosi sind mit dem Tier gut umgegangen, sie haben es als ein Familienmitglied behandelt. Vor der ungarndeutschen Familie öffnet sich durch den Verkauf des Tieres und ihrer Besitztümer die Möglichkeit in die Stadt zu ziehen und dort ein neues Leben zu beginnen. Sáris leben nimmt damit eine Wende: das Pferd gelangt aus den familiären Verhältnissen des Bauernhofs unter die unmenschlichen Bedingungen der Fabrik. In der Ziegelei versucht Gustl das Pferd vor dem Untergang zu behüten, der einfältige und brutale Arbeiter, Jani beginnt das Pferd zu prügeln, schlägt sein Auge aus und bricht seine Sehnsucht nach Freiheit.

Der Titel Auf weiten Wegen erscheint an mehreren Stellen des Textes in unterschiedlichen Formen und fungiert als Hauptmotiv der Erzählung. Durch die Wiederholung erhält die Konstruktion einen metaphorischen Inhalt: er symbolisiert den Abschied von der Heimat und die Entfernung vom Zuhause. Im Gedächtnis des Pferdes erscheinen die Wege als Verknüpfung zur verlorenen Identität der eigenen Vergangenheit. Das Motiv verknüpft sich mit den Begriffen von Traum und Untergang und mit den Gefühlen wie Schmerz, Heimweh und Melancholie.

Die Schauplätze der Erzählung verfügen ebenfalls über einen symbolischen Charakter. Der Bauernhoferscheint nur in der irrealen Welt der Erinnerungen und der Träumen von Sári als die Welt der Vergangenheit. Als soziokulturelle Umgebung des Pferdes diente die ungarndeutsche Familie auf dem Lande mit Franz als Familienoberhaupt. Das Tier verfügte hier über den Status des Familienmitgliedes, der Schauplatz erscheint in seinen Erinnerungen mit idyllischen Eigenschaften. Die Symbolik des Bauernhofes symbolisiert eine unverdorbene Welt der Freiheit. Auf Sári fiel hier draußen in der Natur der Regen als himmlischer Segen herunter.

Die Ziegelei erscheint im Text alsdie Welt der Gegenwart und der Realität. In der neuen Umgebung versucht Besitzer Gustl sich um das Pferd kümmern. Da er die Gefahren der Ziegelei und das Schicksal der hier arbeitenden Pferde kennt, versucht er das Tier vor dem Missbrauch zu behüten. Aus seiner Position folgend ist Gustl aber nicht fähig die Situation des Tieres unter seiner Kontrolle zu halten, und so gelangt Sári langsam in die Hände von Jani, der mit seiner elementaren Aggressivität und Skrupellosigkeit im Werk den Vernichter aller Werte verkörpert. Bis Sári auf dem Bauernhof als ein Familienmitglied behandelt worden war, muss es sich in der Ziegelei mit der Funktion der Industriearbeiters konfrontieren. Die soziokulturelle Umgebung des ungarndeutschen Bauernhofes wird hier von der traditionslosen sozialistischen Industriefabrik abgelöst. Die Ziegelei erscheint im Text als der Schauplatz des Unterganges, wo aus dem freien Individuum durch die Produktion ein gleichgeschalteter Industriearbeiter hergestellt wird. Die Ziegelei ist das Symbol der sozialistischen kollektivistischen Gesellschaft, die sich die Vernichtung des Individuums zum Ziel gesetzt hat. In der Ziegelei verkehrt Sári nur noch auf Gleisen, die eine feste Richtung haben und für das Pferd damit die Gefangenschaft bedeuten. Anstatt des erfrischenden Regens der Natur steigt hier aus der verschmutzten Luft des Industriegebiets ständig Ziegelstaub auf das Pferd herunter.

Aus einer soziokulturellen Perspektive gesehen stellt die Erzählung mit der Geschichte des Pferdes und der Bauernfamilie die Urbanisation und Assimilation der deutschen Minderheit in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg dar. Die hinterlassenen Tiere (Hunde, Pferde etc.) sind in dieser Hinsicht Symbole der überflüssig gewordenen Elemente einer Kultur, die infolge von sozialen Veränderungen ihre frühere Funktion verloren haben. Aus einer allgemeinphilosophischen Sicht können diese Tiere auch als die Symbole von Erinnerungen, Werte, Gedanken, Ideen oder Lebensphasen interpretiert werden, die die Menschen während der Veränderungen des Lebens hinter sich gelassen haben. Die Erzählung verfügt außerdem über eine sakrale Dimension, die in Richtung der christlichen Tradition zeigt. Das Geld, das Franz für das Tier erhalten hat, wird im Text als „Judaslohn“ bezeichnet. Franz rückt damit in die Position des Verräters, das Pferd in die des verratenen Freundes, in dessen Leben infolge dieser Entscheidung eine Leidensgeschichte beginnt. Hinter dem Schicksal des geopferten Pferdes taucht die Passion von Christus auf, der Text verwandelt sich dadurch zu einer Parabel, in der sich die biblische Leidensgeschichte verbirgt.