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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Robert Becker: Seemannslied

Glaubensreflexionen: Gottesferne und Gottesnähe

Robert Becker: Seemannslied

 

 

Seemannslied

Du kaperst mein Leben
und ziehst mich an Land –
holst ein meine Segel
und verteerst meine Lecks.

lass mich entladen die Fracht
und schreien mit Möwen
bei Ebbe und Flut.

doch packt mich ein Weh
nach den Häfen der Ferne
so leg mir die Hand
auf die Augen
und gebiete zu schweigen
dem Wind und den Wellen
bis einkehrt zur Nacht
die Stille der Molen.

(2003)

 

 

Interpretation

Das Seemannslied von Robert Becker ist einer der Gebete in der ungarndeutschen Literatur. Aufgrund der verwendeten Motive und der formalen Mittel lässt sich das Werk an die christliche Tradition knüpfen. Die persönliche Stimme und die Tiefe des Glaubens ruft die dichterische Welt der alttestamentlichen Psalmen wach. Das Hauptmotiv des Textes, das Meer zu stillen („und gebiete zu schweigen / dem Wind und den Wellen“), verknüpft den Text mit der Welt des Neuen Testaments. Die Passage ist eine konkrete intertextuelle Bezugnahme auf das Evangelium von Markus.

Im Mittelpunkt dieser Szene steht Jesus und seine darauffolgende Handlung, als er und seine Jünger eines Abends in ein Boot steigen, um ihre Tätigkeit am anderen Ufer des Galiläischen Meeres auszuüben, und dabei in Seenot geraten. Unter den Jüngerbefanden sich mehrere Fischer, die die Herausforderungen des Meeres gut kannten, und obwohl sie wahrscheinlich ihr bestes taten, verlieren sie in dieser Szene auf den aufgepeitschten Wellen des Sees die Kontrolle über das Boot. Sie rennen zu dem schlafenden Jesus, der mit seinen Worten die Wellen zur Ruhe bringt und ihr Boot rettet. Nach dieser Szene fragt der Meister nach dem Glauben seiner Jünger, die in ihm den Herrn der Schöpfung erkennen.

Das Gedicht steht mit der biblischen Erzählung auf mehrfache Art in Verbindung. Es ist das Gebet einer Person, die nach den Herausforderungen des Lebens bei dem Allmächtigen Zuflucht sucht. Das Gedicht von Robert Becker stellt die Erkenntnis des Individuums dar, dass der Mensch nicht fähig sein kann alle Proben des Lebens alleine zu meistern. Das Meer und das Boot, als uralte Lebenssymbole bilden sowohl in der biblischen Erzählung als auch im Gedicht die Grundmotive der Narration.

Aufgrund der Stropheneinteilung kann der Text in drei Einheiten gegliedert werden. Die erste Strophe beginnt mit der Ansprache („Du…“) und stellt das Bild des landenden Schiffes in einem Hafen dar. Das Schiff erscheint hier als Metapher des Individuums, das von der Aktivität einer ihm übergestellten transzendentalen Kraft geleitet wird. Die Metapher des Schiffes dehnt sich auf das ganze Gedicht aus und wird auf diese Weise zu einer Allegorie des menschlichen Lebens. Die Metapher „verteerst meine Lecks“ (~ seelische Wunden) in der ersten Strophe und die stille Melancholie des Textes deuten auch auf die Herausforderungen hin, die das lyrische Ich auf dem Meer des Lebens erlebt hat.

Nach der Darstellung der Macht des Handelnden über das menschliche Leben in der ersten Strophe, formuliert die zweite Einheit eine persönliche Bitte. Der Sprechende bittet um die Befreiung von den Lastern und zeichnet das Bild über die Freiheit der Seele: „und schreien mit Möwen bei Ebbe und Flut.“ Die dritte Strophe ist eine Paraphrase der Bitte um das Beschützen vor der Versuchung im Vaterunser „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.“ (Lukas 11,4) Die Zeilen dieser Einheit enthalten wortwörtliche Übernahmen aus der Erzählung über die Stillung des Sturmes durch Jesus oder sie deuten mit Hilfe von Synonymen auf den biblischen Text hin:

Robert Becker: Seemannslied (3. Strophe)

Die Stillung des Sturmes

(Markus 4, 35-41)

               „doch packt mich ein Weh

               nach den Häfen der Ferne

               so leg mir die Hand

               auf die Augen

                 und gebiete zu schweigen

                 dem Wind und den Wellen

               bis einkehrt zur Nacht

               die Stille der Molen.“

„35 Und an demselben Tage des Abends sprach er zu ihnen: Lasst uns hinüberfahren. 36 Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn, wie er im Schiff war; und es waren mehr Schiffe bei ihm. 37 Und es erhob sich ein großer Windwirbel und warf Wellen in das Schiff, also dass das Schiff voll ward. 38 Und er war hinten auf dem Schiff und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts darnach, dass wir verderben? 39 Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich, und es ward eine große Stille. 40 Und er sprach zu ihnen: Wie seid ihr so furchtsam? Wie, dass ihr keinen Glauben habt? 41 Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? denn Wind und Meer sind ihm gehorsam.“

Das Gedicht ist eine Zeugenschaft des Gläubigen, nämlich dass allein durch die Zuwendung zu Gott das menschliche Leben grundlegend verändert und dem Individuum in den Gefahren seines persönlichen Lebensweges geholfen werden kann.