Schreiben Sie uns: lehrbuch@udpi.hu

Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Josef Michaelis: Branauer Schwäbin

Josef Michaelis: Branauer Schwäbin

 

Josef Michaelis: Branauer Schwäbin

Mit ihrer Enkelin
spricht sie ungarisch.
Deutsch
mit ihrem Hund,
ihrer Katze,
mit Fotos,
ihrem Gebetbuch,
ihren Verstorbenen,
mit sich selbst. Bald,
im Kleindorf als Letzte,
mit Gott?

(2000)

 

 

Interpretation

Das Gedicht Branauer Schwäbin (2000) von Josef Michaelis knüpft an die ungarndeutsche Gegenwartliteratur an, die die Frage nach der Sprache in Zusammenhang mit den Schicksalsfragen der Gemeinschaft zu ihrem Thema machen. Für dieses emblematische Gedicht erhielt der Dichter im Jahre 2006 den 2. Preis beim Literaturwettbewerb der Künstlergilde in Esslingen.

Schon allein der Titel Branauer Schwäbin deutet darauf hin, dass das Gedicht die soziale und kulturelle Lage der deutschen Minderheit von Ungarn thematisiert: Als Träger der Mundarten, der Vergangenheit und der Traditionen haben die „schwäbischen Großmütter“ einen symbolischen Charakter in der Identitätsbildung der Nationalität. Das finite Verb „spricht“ (Gegenwart) bildet die sogenannte Kernsubstanz des Gedichtes, wobei das Verb auf zwei Zeitebenen verwendet wird - Vergangenheit und Zukunft. Ebenso ist der Gegensatz zwischen der Verwendung der ungarischen und der deutschen Sprache in verschiedenen Situationen ein strukturbildendes Element des Textes. Die Substantive im Text markieren die Bindung zu den verschiedenen zeitlichen Dimensionen der Gemeinschaft und die unterschiedlichen Zeitschichten folgen in nicht-linearer Ordnung.

Das Gedicht wird mit einem prophetischen Satz über das Schicksal der ungarndeutschen Gemeinschaft eröffnet: „Mit ihrer Enkelin / spricht sie ungarisch.“ Der mahnende Satz deutet durch die sprachliche Bindung der Enkelkinder an die Zukunft der Nationalität hin: Die Verbreitung der Ungarischsprachigkeit und die gescheiterte Kommunikation in der deutschen Sprache zwischen den Großeltern und den nachfolgenden Generationen sind ein Symbol der Assimilation.

Im Mittelpunkt des Gedichtes steht die Branauer Schwäbin, eine sprachlich vereinsamte Persönlichkeit: Ihre Kommunikationsmöglichkeiten beschränken sich auf ihre Muttersprache, im Horizont der Gegenwart auf ihre Haustiere und auf Gott. Ihre Gegenstände (Fotos, Gebetbuch) stellen die Bindung des Individuums zur Vergangenheit dar. Die Frau ist mit ihren konservativen sozialen und kulturellen Gegebenheiten (Glaube, Minderheitensprache, Wohnort in einem Kleindorf) an die Peripherie der Gesellschaft gedrängt.

Das Gedicht thematisiert im Spannungsfeld der zwei Sprachen und der zeitlichen Dimensionen die Assimilation der Minderheit mit einer melancholischen Gelassenheit. Das Fragezeichen am Ende des Textes lässt aber die Entwicklung des Ungarndeutschen für die Zukunft offen.