Schreiben Sie uns: lehrbuch@udpi.hu

Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Valeria Koch: Ungarndeutsch; Koloman Brenner: Ungarndeutsch; Angela Korb: Ungarndeutsche

Valeria Koch: Ungarndeutsch; Koloman Brenner: Ungarndeutsch; Angela Korb: Ungarndeutsche

 

 

Valeria Koch: Ungarndeutsch

ist das Maß
des tüchtigen Aussterbens

 

 

 

Koloman Brenner: Ungarndeutsch

Die Fränkin meinte bitterbös:
tüchtig aussterben

Programm läuft
wie vorgesehen

aber Paar Momente
wenn mit Freunden
noch deutsches Wort herrscht
und zergeht bittersüß in unserem Mund
zaubern richtigfarbene Welt hervor
und die Wirbel im Rückgrat sitzen
auf einmal fester

lachen wir dabei
wenigstens

Es war gute Arbeit
und jeder kommt
in den ungarischen Himmel

(2001)

 

 

Angela Korb: Ungarndeutsche

gepriesen vertrieben
gekreuzigt begraben
gelassen verlassen

             *

Die erste Generation starb
- die Überlebenschancen waren gering.
Die zweite Generation lebte
- sie war überwiegend kräftig
Die dritte Generation glaubt zu leben
- die unterste Stufe des Seins ist auch
mehr als Nicht-Sein!

             *

Der Chor der Engel
unter der Leitung
des begnadeten Luzifers
gibt am 666. Tag
des himmlischen Karnevals
ein Festkonzert im
goldenen Saale des
Wolkenpalastes.
Der Eintritt ist Himmelsbewohnern
freigestellt,
die Siedler von Dantes Hölle
dürfen das Konzert durch
feurige Luftröhren verfolgen.
Alle Interessenten werden
herzlichst eingeladen.
Die Sektion der Ungarndeutschen
erhält Sonderkarten
an der himmlischen Sparkasse.

(2003)

 

 

Interpretation

Der berühmte Zweizeiler von Valeria Koch ist 1989 im Gedichtband Sub rosa erschienen. Der Satz ist schnell zu einem viel diskutierten, geflügelten Wort der ungarndeutschen Öffentlichkeit geworden. Der Titel bildet zusammen mit den zwei Zeilen den einen einzigen Satz des Textes, der als eine untrennbare Einheit den Untergang der Minderheit prophezeit.

Bei Nicht-Berücksichtigung der zwei Artikel besteht der Text aus fünf Lexemen, die über eine inhaltliche Bedeutung verfügen: Ungarndeutsch, ist, tüchtig, Maß, Aussterben. Die Wortkonstruktion Ungarndeutsch ist in der Zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur kanonisierten Bezeichnung der deutschen Minderheit des Landes geworden. Der Singular 3. Person des Verbes sein deutet in der urteilhaften Aussage des Satzes auf einen gegenwärtigen Zustand hin. Im Oxymoron des tüchtigen Aussterbens ist das Attribut tüchtig das stereotypische Merkmal der Minderheit, das sich im Text mit der Vision vom Tode der Volksgruppe verknüpft. In dieser Spannung der Begriffe erscheint sowohl das Bild des heldenhaften Todes, als auch der apathischen Ergebenheit. In diesem Prozess geht es natürlich nicht um einen materiell-biologischen Untergang, sondern um die stille Assimilation mit dem Verlust der eigenen Kultur, in der die Mitglieder der Gemeinschaft keinen Widerstand mehr leisten.

Der Text führt uns zu den Anfängen der Epigrammendichtung zurück, als die griechische Gattung noch als eine magische Grabinschrift diente. Der Text stand durch die Macht der Worte mit der Seele des Verstorbenen in unmittelbarer Verbindung. In diesem Sinne ist der Titel des Textes der Name des Verstorbenen und der Text des Gedichtes die Inschrift auf dem Grabstein. Die wortkarge Bruchteilhaftigkeit des Textes symbolisiert die Abbröckelung der Kultur, deren Schicksal als gestempelt erscheint. Die Textwelt öffnet einen virtuellen Friedhof vor den Augen des Rezipienten und repräsentiert die Tatsachen der soziokulturellen Assimilation. Durch das Bild des Grabsteins erscheint auch das Kreuz in der Symbolik des Textes. Die Geschichte des Volkes wird dadurch mit der sakralen Leidensgeschichte von Christus im Evangelium in Verbindung gesetzt.

Koloman Brenner eröffnete mit seinem Gedicht Ungarndeutsch eine intertextuelle Diskussion zum gleichnamigen Thema in der ungarndeutschen Literatur. Er verknüpft seinen eigenen Gedankengang bewusst mit dem Gedicht von Valeria Koch: „Die Fränkin meinte bitterbös: tüchtig aussterben”. Der zweite Text ruft ebenfalls die Visionen des Untergangs wach: „Programm läuft wie vorgesehen”, wobei er nicht die Vorstellung teilt, dass dieser Prozess beendet wäre. Die Konjunktion aber deutet auf einen Gegensatz mit dem ersten Gedicht hin und löst damit die Abgeschlossenheit der dargestellten Phänomene auf. Das lyrische Ich erscheint hier als ein Zeuge, der die Existenz der Gemeinschaft als etwas Lebendiges erlebt und davon auch Zeugnis ablegt: „aber paar Momente / wenn mit Freunden / noch deutsches Wort herrscht / und zergeht bittersüß in unserem Mund / zaubern richtigfarbene Welt hervor / und die Wirbel im Rückgrat sitzen / auf einmal fester”.

Im Gedicht wird auch das Pfand der Zukunft der Minderheit manifestiert: wenn in den Reihen der Gemeinschaft das deutsche Wort noch zu hören ist, kann man noch über die Existenz der Minderheit sprechen. Damit wird die Sprache als definitives Zeichen der Kultur erwähnt, deren Verlust dagegen die Erfüllung der Kochschen Prophezeiung bedeuten würde. Die heroische Stimmung des ersten Gedichts wird von Brenner mit Humor gelöst: „lachen wir wenigstens dabei”. Sogar die angesprochene transzendentale Narrative wird hier auf eine ironische Art dargestellt: „Es war gute Arbeit / und jeder kommt / in den ungarischen Himmel”. Anstelle eines Mythologisierens deutet der Text durch die Programmhaftigkeit eher auf die bewusste Einschmelzung der Minderheiten in gewissen Perioden des 20. Jahrhunderts hin.

Das Tryptichon von Angela Korb Ungarndeutsche erweitert den Dialog zu einem intertextuellen Dreieck. Das Thema, das Mythologisieren und der lakonische Stil der ersten Strophe verknüpfen das Gedicht mit dem Text von Valeria Koch. Die Geschichte der Minderheit betrachtet sie jedoch ähnlich wie Brenner nicht als eine abgeschlossene Einheit. Obwohl das Gedicht die Leidensgeschichte ebenfalls thematisiert, werden die Fragestellungen mit narrativen Passagen ironisiert.

Die intertextuellen Beziehungen zwischen den einzelnen Werken der ungarndeutschen Literatur beweisen eine lebendige und bewusste literarische Tradition. Die Texte repräsentieren daneben eine Strömung innerhalb der Literaturszene, die seit den 1980er Jahren die Bedrohung von Assimilation und Sprachverlust mit immer radikaleren Tönen thematisiert.