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Helmut Herman Bechtel - Zoltán Szendi
Tradition und Modernität in der ungarndeutschen Literatur

Valeria Koch: Stiefkind der Sprache

Valeria Koch: Stiefkind der Sprache

Sag mal wer kennt dich
für wen bist du wichtig
seit zweihundert Jahren
suchst du nach klaren
Spuren auf Erden
um nicht zu verderben

Wo bist nun zu Hause
in schriller Pause
verklungener Worte
hoffnungsverdorrte
Takte bringt dein Lied
du bist ein fremdes Glied
geworden und geblieben
hier kein Grund dich zu lieben
dort keiner zu achten
leer sind die Frachten
versinkender Schiffe
im Meer der Begriffe

Sag mal wer kennt dich
für wen bist du wichtig
aus irrer Rache
bist Stiefkind der Sprache

(1987)

 

Das individuelle und das kollektive Schicksal der Ungarndeutschen lösen sich in diesem „Klagelied“ ineinander auf. Das Persönliche zeigt sich in der Selbstanrede „du“ oder „dich“, während das Allgemeine mit dem Hinweis auf die Jahrhunderte, die das Volk in der neuen Heimat verbrachte, angedeutet wird. Beide Schicksalskomponenten sind zugleich mit der Sprache doppelt verbunden: mit der Sprache der Minderheit und mit der der eigenen Poesie. Diese Bedeutungsmehrschichtigkeit wird im ganzen Text aufrechterhalten. Der Entfremdungsprozess – „du bist ein fremdes Glied / geworden und geblieben“ – wird in der tragisch-paradoxerweise erfahrenen Situation der zweifachen Heimatlosigkeit vollendet: „hier kein Grund dich zu lieben / dort keiner zu achten“, wobei mit dem „hier“ Ungarn und mit dem „dort“ die alte Heimat Deutschland gemeint ist. Die Abschlusszeilen verweisen mit dem schmerzhaften Vorwurf „aus irrer Rache“ auf die Kollektivstrafe, welche die Ungarndeutschen nach dem 2. Weltkrieg erleiden mussten und die dann in der Tat zu der wahren Gefahr des „tüchtigen Aussterbens“ führte, wie diese düstere Vision in dem zweizeiligen Gedicht Ungarndeutsch formuliert wird:

Ungarndeutsch (1987)

ist das Maß

des tüchtigen Aussterbens

 

 

Interpretation

Das Gedicht Stiefkind der Sprache vonValeria Koch wurde im Jahre 1987 in Budapest geschrieben und ist in der Anthologie Das Zweiglein (1989) erschienen. Der Text ist der Strömung der ungarndeutschen Literatur zuzuordnen, die die Fragen nach der Sprache, der Assimilation und der Identität thematisiert.

Die Genitivkonstruktion Stiefkind der Sprache drückt den Mangel einer harmonischen Beziehung zwischen einer Person und der Sprache aus, in der die zweite in der Elternrolle steht. Der Begriff Stiefkind kann aber kaum wortwörtlich interpretiert werden, es ist eherdas sprachliche Zeichen einer Position, woher die Beziehung zur Sprache als „Stief-“, also schlecht, mangelhaft, krank, deformiert etc. erscheint. Die Sprache ist in dieser Beziehung durch die deutsche Wortkonstruktion (Muttersprache) und durch den Genus des Wortes ein femininer Begriff. Das Stiefkind-Dasein der Genitivkonstruktion deutet im Sinne der Kind-Mutter-Relation auf eine radikale existenzielle Isolation hin.

Aus kommunikativer Hinsicht ist das Gedicht der Teil eines Dialogs, in dem das lyrische Ich auf seine Fragen keine Antworten erhält. Er stellt das schweigende Stiefkind als einen einsamen Außenseiter auf der Peripherie der Existenz vor, der mit den negativen Begriffen des Mangels beschrieben werden kann. Das lyrische Subjekt charakterisiert das Stiefkind mit den Begriffen des Alleinseins(„wem bist du wichtig”), der Heimatlosigkeit („wo bist nun zu Hause”), der Hoffnungslosigkeit („hoffnungsverdorrte Takte bringt dein Lied”) und der Wortlosigkeit („ leer sind die Frachten sinkender Schiffe im Meer der Begriffe”). Das Gedicht ist ein Dialog ohne Antworten: der Zuhörer (das Stiefkind der Sprache) ist zum Schweigen verurteilt, die Zweifel des Sprechers werden dadurch zu unbeantworteten, dichterischen Fragen.

Durch die zurückkehrende Anapher erhält das Gedicht einen Rahmen: „

sag mal wer kennt dich / wem bist du wichtig”

. Die Rückkehr des Titels am Ende des Gedichtes kann als urteilhafter Akt der Namensgebung interpretiert werden. Das Gedicht thematisiert allgemein die Beziehung zur Sprache und zur Kultur, in diesem Sinne ist das Stiefkind der Sprache das menschliche Subjekt selbst. Das Gedicht stellt dadurch die philosophische Frage, ob wir überhaupt je in der Lage sind eine eigene Sprache und Kultur zu besitzen. Als eine andere Bedeutungsschicht personifiziert das Stiefkind der Sprache eine ungarndeutsche Person, die den Verlust der Muttersprache und der Identität erlebt.