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V. Gedankenlyrik

 Valeria Koch: Wandlung (1992) (St 125)

Die wichtigste Stunde ist
immer die Gegenwart.
(Meister Eckhart)

Alle während wir vergehen
Völker Grenzen Lieben Wehen
wird die Wandlung stets bestehen
um die Gegenwart sich drehen
was war sei wahr
was wird leicht irrt
allein das Jetzt
noch nicht verletzt
„Hic Rhodus, hic salta!“ mahnen
aus glücklichen Zeiten Ahnen
wir stehn in Mauern und lauern
auf unser eigenes Schauern
was wird leicht irrt
was war sei wahr
noch nicht verletzt
allein das Jetzt

 

 Robert Becker: Panoptikum (G 69)

Der Tod ist ein Heiligtum:
eine leere Urne im aufgebrochenen
Grab des Lebens.
Das sanfteste Schwarz
hinter dem leuchtend weißen
Leichentuch der Existenz.
Wie wortlos glänzt
der thronende
Herr der Zeit
und wächst in jedem
sich regenden Atom
der Vergänglichkeit.

 Robert Becker: Jahrtausendwende (G 109)

arm an Gefühlen
und an Vernunft nicht reich
hoben an und fielen bald
zwanzig der stolzen Jahr-
hunderte im Nachtland
noch reicht das Raubgold
aus dicken Kolonien für
Kreuzzüge und um manche
Kreuze zu brechen – doch
wie lange noch waltet Verbrechen
aus eigener Wahl ging einer
aufs Holz und wusste genau
sein Opfer ist zu gering
in der Welt der Barbaren
so schwitzte er Blut
wieder andere sind im
Namen der Dornenkrone
König und Herr geworden
und wähnen sich glücklich
zu herrschen durch Gewalt
Hochmut regiert und nach
Schwefel riecht der Kontinent
es steht gut für die Waffen-
schmiede die lieber leben
im Krieg als in Frieden ewig
die Scharfrichter fluchen wenn
der Rauch ihre Augen quält
doch die Verdammten küssen
das Kruzifix und singen das
Kyrie bis zuletzt – heute noch
mußt du wissen wo du stehst

 Robert Becker: KontroVers (1987) (F 11)

deine Zeit ist
noch nicht da
um etwas zu sein
so bist du nichts
wie die Zeit

 Robert Becker: Dämmerung (1993) (F 72)

Töne stampfen. Mit allen Pulsschlägen
bröckelt ein Stück Jugend ab
und radieren sich Bilder
aus einer Erinnerung
– die es nie gab.

 

Generationen und Familie

 

Ingeborg Hecker: Kinder

In Zucht und Gehorsam
breite ich mich um mein Haus,
wie eine kampfbereite Henne
die Flügel spannt um ihre Kleinen;
so werde ich gleichfalls meine Kinder
umschließen
mit Liebe und steinerner Sicherheit,
mit unwandelbarer streitbarer Treue.
Ich werde mich als Opfer
auf die Schwelle legen,
sollte Eines begehren,
den Weg mit dem Bösen zu gehen.

 

 Valeria Koch: Brief

an die großen alten Männer der Welt

ich will noch lieben
Kinder kriegen
um den Maibaum tanzen
Bäume pflanzen
nicht zerscherben
schön alt werden
möglichst so alt
wie Sie
1985

 

 Valeria Koch: Glaskugelkindheit

Längst schon entrollte
die Glaskugelkindheit
darin mit der Tochter
der blonden Gedanken
sie ruht im Teich der Jahre bleich
sie pocht im Kern
der Sonnen fern
Längst schon zerbrochen
die Glaskugelkindheit
verdunkelnder Himmel
des Mädchens blauer Blick
sie liegt beschneit
von Ewigkeit
verlornes Pfand
im Seelensand
1978

 

 Valeria Koch: Jugend

Jugend heißt
Blüten im goldblauen Wind
Jugend träumt
Taten, die sie einst vollbringt
Jugend spielt
Ordnung, umdichtet die Welt
Jugend bahnt
Wege vom Wissen erhellt
Jugend heißt
Liebe, lodert lichterloh
Jugend bringt
Frieden vervollkommnungsfroh
Jugend spricht
Worte voll Zauber und Sinn
Jugend ist
Selbst der beseelte Beginn
1977

 

 Valeria Koch: Kindheit
Kein Wind, kein gewaltiger Regen
bringen sie uns nochmal entgegen.
Nicht einmal frohe Abendglocken.
Doch etwas vielleicht: sanfte Flocken,
Flocken des Winters – stilles Wallen –,
die wie aus Märchenbüchern fallen,
ganz der Frau-Holle-Sage ähnlich,
leise, langsam, unpersönlich,
dennoch vertraut, dennoch bekannt,
seit unserm Kindheit-Verloren-Land,
woher sie jährlich fliegend kommen,
erinnern uns an dessen Wonnen.
1973

 

 Valeria Koch: Perlen

Der Kindheit Sparherdwärme
die weichen Dunkelstund‘
im Aufblinken die Sterne
der Abend kugelrund
Der Vater grad im Kommen
in Mutters kühlem Mund
die Lieder rot verglommen
es perlt im Seelengrund
1978

 

 Valeria Koch: Teenager-Klagelied

Wir Schwabenkinder
großmütterlicherseits
mit Eltern der Nostalgiewelle
wachsen im Atomzeitalter
einer fragezeichenreichen Zukunft zu
indem wir punken
gegen Schranken
einer kranken
Welt
uns bleibt nur Handeln
in Lust verwandeln
bis dieses Tandeln
zerfällt
1985

 

 Valeria Koch: Wo die Schlitten sausen

Du stehst am Fenster im neunten Stock der Großstadt. Draußen fällt in dichten Flocken der Schnee. Glückliches, ruhiges Wallen, Bescheidenheit in Scharen – meldet sich der romantisch angehauchte Schöngeist in dir. Weiß für einige Minuten, eisiger Matsch, Verletzungsgefahr – setzt sofort der erfahrene Realpessimist entgegen. In dir, natürlich. Wie immer. Zu einer dialektischen Synthese kommt es – wie meistens – auch diesmal von außen: Kinder eilen mit Schlitten zum einzigen Hügel der Umgebung. Und schon fliegen die ersten Schneebälle, wächst der dicke Schneemann, sausen die Schlitten. Kälte, Naßwerden, Hinfallen gehören mit dazu: zum Erlebnis Winter, zum Genuß Schnee. Kinder grübeln nicht. Sie handeln. Wie einst auch du. Erinnerst dich noch an die schneebedeckte Zeit deiner Kindheit? An die prächtigen Hügel, Berghänge und Täler deines Heimatdorfes? Sie alle waren von Natur aus fürs Rodeln erfunden, keine Kunstgebilde, wie dieser städtische Hügel da vor deinem Fenster. Denn dieser Hügel inmitten des Parks ist Produkt der Gebietsplanung, verdankt seine Geburt einem wahrscheinlich kinderfreundlichen Ingenieur, der als Knabe sicherlich selbst gern gerodelt hat. Für Hunderte von Flachlandkindern des neuen Wohnviertels ließ dieser gute Mensch aus Schutt, Steinen und Sand einen Hügel zum Schlittenfahren erheben. Das schmale, holprige, zweimannhohe Gelände wurde zur Lieblingsstätte der kleinen Rodler. Wenn auch winzig, ist es ihre Gleitbahn. Ihr Hügel.

Wie die deinen waren? Die Mehrzahl ist hier angebracht, denn du hast sogar drei Rodelplätze gehabt. Der eine Hügel befand sich ganz in der Nähe eures Hauses. Er war zweifelsohne die gefährlichste Gleitbahn. Sie führte nämlich über den Gehsteig und einen zugefrorenen Graben weit über die Straße. Keiner von euch hat die ständige Drohung wahrgenommen. Oft seid ihr, du und deine Kameraden, erst beim Aufblinken der ersten Sterne nach Hause gerast, verfroren, todmüde, klitschnaß, vom Hunger getrieben. Was eure Mutter dazu sagte? Wenn sie auch ein böses Gesicht machte, war sie immer wieder froh, euch in einem und im ganzen wiedersehen zu können. Euer Schutzengel mußte damals harte Schichten haben...

Die zweite Rodelbahn war weniger gefährlich, dafür aber leicht morbid. Sie begann nämlich oben am (nicht selten auch im) Friedhof und endete vor der Kirche. Die schöne, sonst stille Kastanienallee – der Weg zum Friedhof – hallte in schneereichen Winterzeiten vom Geschrei und Jubel der Schlittenfahrer wider. Damit sich die Toten nicht langweilten, habt ihr ihnen Schneemänner gebaut, Lieder gesungen. Purzelte einer von euch vom Schlitten, mußte er den Toten spielen. Ihr habt ihn auch „begraben“: mit Schnee bestreut, halbverstandene lateinische Begräbnisformeln murmelnd. Solang das Reich der Toten als Spielplatz dienen kann, sind Sterben und Angst freundliche Begriffe. Wo aber ist schon der Schnee vom vergangenen Jahr?

Am Rande des Dorfes, neben einem jungen Tannenwald, führte ein steiler Weg in die Weingärten. Vis-à-vis, im letzten Haus des Dorfes, wohnte deine Oma. Von diesem schmalen Bergweg konntest du fast bis zu ihrem Gartentor rodeln. Nach den großen Schlittenfahrten am vereisten Waldrand bist du dann oft bei der Oma gelandet. In ihrer vertrauten Küche konntest du deine Füße wärmen, die nassen Handschuhe trocknen und als du schon größer warst, bevorzugtest du mit deinen Kameraden diese lange, steile Rodelbahn. Die zwei anderen hast du einfach ausgewachsen. Hier fielen schon Worte über Beruf und Liebe, und nicht immer der Wind war’s, der die Wangen rötete.

Du stehst am Fenster, schaust den rodelnden Kindern zu. Was für Erinnerungen werden sie mal vom Schlittenfahren haben?

Budapest, 1981

 Stefan Valentin: Lebenslauf

Ich wurde in der Morgendämmerung der Geschichte geboren. Meine Mutter heißt Glück und mein Vater Sinn. Beide sind Ideale von Beruf.

Meine Kindheit verging in Kampf und Frieden, ich wurde einer strengen Erziehung teilhaftig und musste das Ziel vor Augen halten, immer mehr zu sein, als ich in der Tat bin. Ich durfte meine eigene Persönlichkeit nie annehmen, ich musste mich in ein vollständiges Wesen umwandeln.

Zur Grundschule ging ich im altertümlichen Rom. Ich glaubte an alles, was mir die Götter anboten. Ich nahm an verschiedenen Wettspielen teil, in denen ich beweisen konnte, dass ich die ganze Welt erobern kann. Darauf folgten dunkle Jahrhunderte. Ich verschloß mich nach innen und suchte die einzige Wahrheit. Die Gymnasialjahre verbrachte ich in der Thomas von Aquin Scholastischen Privatschule in Bologna und dort legte ich auch die Reifeprüfung ab. Nach der Matura schloß ich mich der spanischen Armee an, besetzte die ganze Welt und vernichtete viele Völker. Ich verlor Gott.

Als ich den Militärdienst hinter mir hatte, immatrikulierte ich mich an der Universität in Königsberg, an der mir Professor Immanuel Kant das Wissen der Fragestellung beibrachte. Meine Diplomarbeit schrieb ich über die Aufklärung. Ich wurde Doktor der Menschenlehre. Meine erste Arbeitsstelle war die Firma Revolution in Paris, an der ich die Experimentierabteilung leitete. Ich führte viele Paradigmenwechsel durch wie den Übergang aus der diktatorischen Monarchie in die demokratische Anarchie und den aus der anarchischen Monarchie in die demokratische Diktatur.

Inzwischen heiratete ich meine erste Frau, Venus, und lebte mit ihr ein Jahrhundert zusammen. Wir bekamen keine Kinder. Nach der Scheidung wechselte ich auch meine Arbeitsstelle. Als politischer Unternehmer gründete ich extreme Parteien und stritt lange mit der ganzen Welt. Nach einem schweren Zusammenbruch gelangte ich in eine christlich-soziale Klinik in München. Dort lernte ich meine jetzige Frau, Harmonie, kennen, die als Krankenschwester angestellt war. Nach meiner Genesung heirateten wir und nahmen auch meine Mutter Glück bei uns auf. Wir haben zwei Kinder, Optimismus und Liebe. Sie sind sehr begabt und erbten nur unsere guten Eigenschaften. Ich bin stolz auf sie. Sie werden die ganze Welt entfalten. In diesem Glauben erwarte ich eine positive Fortsetzung des Lebens.

Mit freundlichen Grüßen:

Ich

 

 Valeria Koch: Fazit

im Namen Gottes
im Namen der Vernunft
im Namen der Liebe
im Namen der Menschheit
geschieht
alle Gewalt
alles Unrecht
alles Verbrechen
gegen Gott
gegen die Vernunft
gegen die Liebe
gegen die Menschheit
1984

 

 Valeria Koch: Grün 2086

Grün war einmal
die Farbe der Bäume
im Frühling
was heißt Bäume
was heißt Frühling
hier stehn nur noch
verkohlte Stengel
Asche fliegt im grauen Wind
grün war das Gras
der Laubfrosch
die Grille im Wald
steht es da in den Memorie
des Computers
und grün blinzelt
seine unzerstörte
Elektronik
1986

 

 Valeria Koch: Zukunft

ist ein Wort
das mit jedem Atomkraftwerk
weniger Bedeutung hat
1986

 

 Alfred Manz: Rückkehr

Schlenderst erneut im vertrauten,
lindenduftenden Schatten.
Abklingende Töne aus der rötlichen Ferne.
Warum zittern die Blätter ringsum in der Windstille?
1984/1989

 

 Josef Michaelis: Blätter

Blätter
grünen noch
Blätter
in dem Laub
Blätter
fallen doch
Blätter
in den Staub
1984

 

 Robert Becker: Schade,

dass die Gesellschaft
keine Partei ist,
denn dann würde ich
nie eintreten!

1993

 

 Robert Becker: Kaserne

Man greift nach Händen –
hier, wo es nur Fäuste gibt.
Man wünscht sein Leben zu meistern –
hier, wo es nur Befehle gibt.
Und ich will alles schonen –
hier, wo man zerstören lernt.

1998

 

Glaubensreflexionen

 

 Béla Bayer: Nach Hiobs Recht und Gesetz

In meinen Zellen weilt noch
die babylonische Erinnerung
Mit meinem hässlichen Körper
spielt das Fieber der Geschwüre.
Dennoch soll
Gottes Name gesegnet sein!
Auch die lindernde Asche
soll gesegnet sein so wie
auf meinen Lumpen die Scherben!
Der Name des Herrn sei gepriesen!
Obwohl er die Seelen meiner Liebsten
nahm, werde ich meinen
Flüchen entsagen.
Ich weiß, Elifas‘ Verdacht
ist grundlos, auch Zofars
Worte finden keine Bestätigung.
Die Erklärungen des guten Bildad
ermutigen mich.
Das Leid kann nie Sünden vergeben,
Nebenabsicht dürfte
eine Marter schaffen.
Der Name des Herrn sei gepriesen!
Gesegnet sei seine Großzügigkeit!
aber ich bitte Ihn, ehe Er mich zu sich ruft,
solle Er meine Sünden
zu Gedichten verdammen.

 

 Robert Becker: Getto Gottes

wir weinen täglich zweimal
lachen aber nur einmal
legen unser Gesicht
in Furcht-Furchen
breiten Arme im Schnee aus:
wir sind lebendige Kreuze
sterbend erlösen wir uns selbst
1998

 

 Robert Becker: Später Jonas

mein Herr!
die Welt ist
laut geworden
mein Gebet
dringt nicht mehr
hoch zu dir.
2002

 

 Robert Becker: Presslufthammer

donnern deine
Psalme
– und von den
Autobahnen
dröhnen sie entgegen.
an dir vorbei
führt der Weg
auch heute nicht:
wo alles brüllt,
bist du die Stille,
wo Steine fallen,
bist sanft wie Flaum.
nur meine Gebete
die zermürbten
hebe auf mein Gott –
und versenke sie
im tiefen Schwarz
deines ewig weißen
Schweigens!
2002

 

 Robert Becker: Presslufthammer Zweifeltilger

Lehre mich dein Gebet
— Vater unser —
damit mein Weltgeist
sich deinem Willen fügt.
Lasse mich selig werden,
dir umgesehen zu glauben;
gib mir die Kraft,
im Gegenstrom der Zeit
mein Kreuz zu tragen.
1990

 

 Nelu Bradean-Ebinger: Der Fremde

Er kam aus einer Welt
des Glaubens,
des Glaubens an das,
was Leben lebenswert macht.
Er kam im Glauben,
im Glauben daran,
dass alle Menschen gleich sind
vor Gott.
Er kam im Glauben
seiner Kindheit,
im Glauben,
Gutes zu tun,
und Böses zu unterlassen.
Doch er kam in eine Welt
des neuen Glaubens
an fremde Philosophien
an fremde Propheten
an den neuen Menschen.
Er schloss sich an
im Glauben,
etwas Gutes zu tun.
Da wollte man ihm
den Glauben nehmen,
den Glauben seiner Kindheit.
Doch daran hielt er fest:
das einzige, was ihm blieb,
war sein Glaube,
der Glaube seiner Kindheit.
Wohin soll er gehen?
In die alte Heimat,
die es nicht mehr gibt?
Wo soll er bleiben?
In der neuen Welt,
die ihm und für die er
so fremd?
Quo vadis, Fremder?
1990

 

 Claus Klotz: Matthäus 23, 16-18

Wehe über uns, die wir gehorchten:
beim Tempel zu schwören ist nicht mehr schick.
Gold, Gold und Gold beglückt alleine.
Meine, deine und seine Goldtruhe.
Was machen wir aber mit dem Gold ohne das Heiligtum?
1985

 

 Valeria Koch: Gott

hat die Welt
in sechs Tagen
geschaffen
der Mensch kann sie
im Handumdrehn
vernichten
1984

 

 Angela Korb: Das Eisenkreuz

Im wilden Busch
umgeben von stachligen Dornen
steht aus gewaltigem Eisen
das Kreuz
Selten nur
dringen Regentropfen
durch dichte Waldung
zu ihm herab
Einsam
ohne die Schar der Betenden
kündet es noch immer von der Kraft
des Glaubens
Die mächtige Zeit
ruheloser Tage Herrscherin
findet in wüster Dornenödnis das Kreuz
als Zeichen der Hoffnung
Versammelt ums Kreuz
tragen die Seelen der Verstorbenen
über alle Zeit den Glauben an
das Wunder der Liebe
2003

 

 Robert Hecker: Haikus aus dem Band „Anziehungskraft”

abholdienst

Hol Dir meinen schatten ab
er stemmt sich gegen meine
tür ich öffne zwar noch nicht aber…
warte sehnsüchtig bis Du behutsam anklopfst.

ankunft

es gibt einen hafen eine
krippenförmige bucht wochin
trotz der trüben sturmeswucht…
Deine liebe mich ruft das licht in meiner dunkelheit.

simpel

ich liebe Dich so einfach
ist das wenn ich Deinen schatten
umarme wächst in mir nicht die nacht…
Deine liebe nimmt mir jeden erklärungszwang.

 

 Literatur

 

Koloman Brenner: Falterleben

Es reihen sich die Namen
Die Spinnen des Lebens
flechten uns mal zusammen
mal auseinander
Fotos und Eintragungen
registrieren den Wandel
Robert Du Falterfreund
es geht doch
munter weiter

 

 Koloman Brenner: Immer dabei

In memoriam Engelbert Rittinger
Die klugen Augen
sind geschlossen.
Er ruht wie noch nie
in seinem Leben
den Kopf gesenkt
räusperte er sich
und sagte mit zartrauher Stimme
einen glühenden Satz
der uns nachdenken ließ
Du bleibst
immer dabei

 

 Valeria Koch: Lieber Onkel Goethe

Sie wurden eben geboren in Frankfurt am Main
als nach Süden zogen die Ahnen mein
in die Schwäbische Türkei vogelweit – tandaradei!
Manche erfroren dabei
von der Pest gefressen zwei-drei
doch einigen ist es gelungen
wenn auch mit löchernen Lungen
aufbaun ein ärmliches Nest
sie nannten es Heimat den Rest
der ihnen geblieben auf Erden
Wortbrocken und Liederscherben
hielten sie zusammen doch ihr Geschick
schlug ihnen öfters in das Genick
Parolen fielen und Soldaten
wer überlebte wurde verraten
von den seinen mal von den andern
und wieder begann ein wirres Wandern
im Kreise herum und weltweit hinweg
um zu finden ein ruhiges Eck
Wo Sie lieber Onkel Goethe
zu lesen sind in Einigkeit
wo alle menschlichen Gebrechen
sühnet reine Menschlichkeit
wo man taub und blind und stumm
doch immer strebend sich bemüht
vielleicht kennen Sie das Land
wo alte Tugend neu aufblüht vogelweit – tandaradei!
Es grüßt Sie Ihre Nichte
mit einem späten Schrei
1987

 

 Valeria Koch: Zu Hause im Wort

Die größten Dichter und Philosophen sind zugleich die größten Skeptiker dem Wort gegenüber. Hölderlin formulierte seine Skepsis folgendermaßen: „Die Sprache ist ein großer Überfluß. Das Beste bleibt doch immer für sich, und ruht in seiner Tiefe wie die Perle im Grunde des Meeres.“ Ludwig Wittgenstein behauptet, worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.

Wenn man Wittgensteins Wort umdreht, bekommt man genau so eine Aussage, in der viel Wahrheit steckt. Demnach also: Worüber man nicht schweigen kann, darüber muß man sprechen. Sprechen – also sich mitteilen, äußern, seine Meinung sagen. Was wohl sonst könnte ein Dichter, ein Schriftsteller, ein Denker machen? Er ringt immer wieder mit sich selbst und mit dem Wort. Dieses Ringen kann sehr hart sein, schmerzvoll, es kann verletzen. Es kann verursachen, daß man von Zeit zu Zeit verstummt, um danach noch entschlossener oder verzweifelter nach dem Wort zu suchen, nach dem Wort, in dem man zu Hause ist. Denn der moderne Mensch als Dichter oder Denker ist wahrscheinlich nur mehr im Wort so richtig zu Hause: Wenn er das richtige Wort findet, die richtigen Wörter, die richtigen Worte: lebendige, positive, gute Worte, die ihm helfen, weiterzuleben.

Einige glückliche Schaffende haben ein doppeltes Zuhause, oder ein dreifaches oder mehrfaches sogar. Wer mehrere Sprachen kann, besitzt, ist mehrerenorts in der Welt zu Hause. Er fühlt sich überall zu Hause, wenn er das richtige Wort findet. Es ist ziemlich mühsam, zu jeder Zeit, allerorten das richtige, einzig passende, adäquate Wort zu finden. Für jeden Denkenden, Schreibenden eine ganz schön große Last, eine Aufgabe, das richtige Wort zur richtigen Gelegenheit zu finden. Denn das heißt auch, sich selbst zu finden, nach Hause zu kommen. Ein Zuhause zu finden im Wort, von dem man nicht vertrieben werden kann. Denn das Wort sind wir, die es gebrauchen. Die darin leben, die daran glauben. Wir sind das Wort, und das Wort sucht und findet uns: Es spricht uns an. Die Sprache wählt uns aus, nicht wir die Sprache. Dieses Geheimnis, diese Transzendenz der Schöpfung im Wort bleibt für immer ein Rätsel. Es hat etwas Mystisches an sich. Das ist gut so, richtig, recht und gerecht. Zu Hause sein im Wort trotz Skepsis, trotz Verzweiflung, trotz allem: das einzige Zuhause, egal in welcher Sprache.

Wie es der suchende, grübelnde Hölderlin letztendlich doch ganz bewußt und beruhigend feststellt: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“

 

 Josef Michaelis: Ars poetica

Propheten Dichter
säen schreiben
ihre Saaten in den Rauch
auf die Felsen Gedanken
schütteln streuen
Worte Gefühle
in den WIND in den STAUB
der Wüsten der Wege
Propheten und Dichter
Warum sie so leichtgläubig sind?
1983

 

 Josef Michaelis: Lenau

Wenn das Blau
den Morgen erweckt
wenn der Tau
die Wiesen bedeckt,
wenn ganz lau
der Windhauch sich reckt
kommt Lenau
1982