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I. Geschichte und Heimat

  Christina Arnold: Unser Tisch

Er saß oft in der Küche, bei einem Glasl Wein, mit dem Ellbogen auf der Tischplatte und der linken Faust unterm Kinn grübelte er vor sich hin. Der Tisch war immer gedeckt, damit man nicht sah, wie alt er schon war. Sonntags kamen sogar ein extra Tischtuch drauf und auch eine Vase. Zu Weihnachten schmückte den Tisch immer ein Apfel mit einer Kerze drin, die mit kleinen Fichtenzweigen dekoriert war.
Der Tisch war ein Mittelpunkt im Haus. Drum herum saß die Familie, aber nicht nur beim Essen, sondern auch wenn Gäste kamen oder Feierlichkeiten begangen wurden. Der Tisch war schon sehr alt und wurde deswegen bereits einmal aus dem Haus verbannt, genau wie die Besitzer selbst.

Als das Haus damals fertig war, bekam die Hausfrau einen neuen Tisch, einen richtig schönen, einen traditionellen Familientisch. Die Familie war nicht reich, aber der Tischler war ein Verwandter. Zwar kein enger Verwandter, aber Verwandtschaft wurde damals viel ernster genommen als heute, so kriegten sie den neuen Tisch sehr günstig. Der alte kam in die Scheune, das Stückchen Familiengeschichte wurde in die Ecke geschoben, nun saßen Hühner drauf, Arbeitskleidung und leere Säcke haben darauf überwintert. Von der Ecke aus betrachtete der Tisch die Familienmitglieder und vegetierte ohne richtige Aufgabe einfach so vor sich hin.

Der Tisch weilte aber nur wenige Jahre in der Scheune. Bis die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zusammenfand und zu Hause ankam, war das Haus leer. Schränke, Betten und das Vieh, alles war weg. Kleider, Bettzeug, Tischtücher, alle Wertsachen waren gestohlen, alles Eßbare und Tragbare war verschwunden. Nur in der Scheune blieb ein "Familienmitglied" übrig, den alten Tisch mit den gedrechselten Beinen, mit aufklappbarer Tischplatte und den alten Holznägeln wollte keiner haben. Weinend beugte sich das Familienoberhaupt über sein Erbstück und trug es behutsam wieder auf seinen alten Platz. Schwere Jahre erlebte die Familie, aber beim Tisch fand sie immer zusammen.

Die Jahre vergingen und die Glanzzeit des alten Tisches war dann wieder vorbei. Die Rolle des einzig Übriggebliebenen mußte er dann wieder gegen die Rolle des Überflüssigen eintauschen.

„Sel mesch zamschneide?“ fragte der Hausherr seine Frau. Sie sah den Tisch an und mit Tränen in den Augen erinnerte sie sich wieder an die schlimme Zeit. „Naa, laß es ganz, we waaß, was noch kimmt, tu mesch uf ten Pode stelle“, sagte sie und streichelte noch einmal liebevoll über die Tischplatte.

Der Dachboden wurde in den folgenden Jahrzehnten öfters umgeräumt, entrümpelt und aufgeräumt, unnötiger Plunder wurde entsorgt. Nur der Tisch stand folgsam in einer dunklen Ecke und verbarg in seiner Schublade viele, viele Geschichten. Über ihn gebeugt erlernten mehrere Generationen Lesen und Schreiben, auf dieser Tischplatte präsentierte die Hausfrau täglich ihre traditionellen Kochkünste, und sogar Hochzeiten erlebte der Tisch. Nun spielte die Musik ohne ihn weiter, und es konnte von da oben nur erahnt werden, wie sich die Welt inzwischen veränderte.

Heutzutage ist „alt Zeich“ – wie das die Oma nannte, wieder modisch, die Buben gehen oft auf den Dachboden, um nach alten "Schätzen" zu suchen. So wurde auch der alte Tisch nach etwa fünfzig Jahren entdeckt. Mit neuer Lackierung zwar, aber mit denselben Erinnerungen in den Löchern und Furchen dient er nun der fünften Generation. Die alte Tischplatte bedeckt eine durchsichtige Tischdecke, denn jetzt will man jeden Kratzer, jedes eingerissene Holzstück sehen. Der Tisch überlebte längst seine ersten Besitzer und steht als Zeuge der Geschichte wieder im Mittelpunkt einer Küche und hofft nur, dasselbe nicht noch einmal durchmachen zu müssen wie die Besitzer selbst.

2003

 

  Klara Burghardt: Kastanienbäume

Kastanienbäume –
Statuen der Erinnerung.
Hoch,
mächtig,
stolz, doch flüsternd,
wie die Bauernbuben,
die – ihre Heimat schützend –
in den Tod marschierten.
2003

 

  Koloman Brenner: Inschrift

Da sind wir wieder in den Boden
gestampft und gebrandmarkt aber
Da sind wir wieder zwar sind Viele
verlorengegangen und übergelaufen
Da sind wir wieder obwohl argwöhnische
Augen noch immer grunzen im Hintergrund
Da sind wir wieder und das Laufen
macht Spaß auch mit geschwundenen Muskeln
Da sind wir wieder mit angeschwollenen
Augen vom Weinen und mit zittrigen Knochen
Da sind wir wieder und manchmal werden
die Waggons erwähnt und die Verwandtschaft


Da sind wir wieder als wacklige Brücke
zwischen Vater- oder eben Mutterland
Da sind wir wieder ab und zu erhobenen
Hauptes obwohl dies noch auffällt
Da sind wir wieder die Wörter suchend
die von Großmutter so leicht gesprochen wurden
Da sind wir wieder so langsam satt von
Besserwisserei und vom Schachfigurendasein
Da sind wir wieder wie Maulwürfe auf frischer
Luft von der Flut herausgeschwemmt
Da sind wir wieder und unsere Augen
funkeln im graugrellen Sonnenschein
Da sind wir wieder und ballen
zeitweise mit der Fränkin die Faust
DA SIND WIR WIEDER vom Aussterben
bedroht wie eine Grabinschrift der Ahnen
1994

 

  Claus Klotz: Das Zweiglein (Ungarndeutsche Lesebuchgeschichten à la Borchert)

Das Zweiglein brach ab. Niemand sah es, nur der Gärtner. Die Adern pumpten noch Blut bis zur Wunde. Aber das Zweiglein wurde immer dürrer. Und der Gärtner war traurig.

*

Als wir die Urheimat verließen, hatten wir noch keine Heimat. Wir hatten nur Dörfer, Städte und Heime. Wir zogen nach Osten und bauten uns Heime. Wir zogen freiwillig, man hat uns gerufen. Später hatten unsere Brüder aus deutschen Landen eine Heimat. Mit Feuer und Eisen. Jene Heimat war aber nicht mehr die unsrige. Wir waren aber Deutsche und wußten die Sprache unserer Väter zu bewahren.

*

Es kam die Not. Gegen uns wurden Soldaten geschickt. Sie sprachen deutsch wie wir. Wir griffen zu den Waffen und kämpften für unsere neuen Heime. Zusammen mit den Magyaren gegen sie. Auch wir erkämpften uns unsere Heimat: das Ungarnland.

*

Es kamen wieder die Not, wieder die Soldaten. “Ihr seid Deutsche, sollt auch ganz deutsch werden!” Was müssen wir tun? “Schreit: Heil Hitler!” Und viele von uns haben es geschrien. Man zog wieder gen Osten.

*

Als die Soldaten, und die, die mitgeschrien haben, aus tausend Wunden blutend zurückmarschierten, befahlen sie:

“Kommt mit!”

“Wohin?”

“In die Heimat. Hier wird man euch erschlagen.”

Aber wir wußten, sie haben weder Heimat noch Heim.

Noch hatten wir sie.

*

Als die Soldaten und einige von uns abzogen, kamen andere Soldaten. Sie zogen gen Westen. Nach ihnen kamen Fremde. Sie hielten eine Karte in der Hand. Darauf waren unsere Dörfer mit rotem Stift angekreuzt. Da gab es Jammer und Weh. Mutter und Kind, Schwester und Bruder, Bruder und Bruder wurden getrennt.

“Aber wir haben doch nichts getan!”

“Ihr seid Deutsche”, war die Antwort. Und viele von uns mußten Heim und Heimat verlassen.

*

Vorige Woche frug ich einen blonden Jungen auf der Straße in einem unserer Dörfer:
“Wie heißt du?”
“Eichard István.”
“Bist du Deutscher?”
“Nein. Nur mein Großvater und meine Großmutter waren es.”

*

Das Zweiglein brach ab. Niemand sah es, nur der Gärtner. Die Adern spritzten noch Blut zur Wunde, aber das Zweiglein wurde immer dürrer. Und der Gärtner war traurig.

1984

 

  Claus Klotz: Hopsa, Liesel

Schreibtischakten
Zahlen, Fakten,
Tanzen, Singen,
Nabelschau.
Schaffe, schaffe Häuslebau.
Nur Mut,
ihr Ungarndeutschen!
Alte Weise,
Deutschlandreise,
Stiftungspreise.
Hopsa, Liesel,
D-Mark-Rieseln,
Nur Mut,
ihr Ungarndeutschen!
Kluge Reden,
Brötchenfehden,
Kampf um jeden.
Demokratie,
so war sie noch nie.
Nur Mut,
ihr Ungarndeutschen!
Heimatorte,
Neue Pforte,
Reformworte,
Volkstumskampf.
Schmeckt uns doch die Sauerampf!
Nur Mut,
ihr Ungarndeutschen!
Deutsche Predigt,
Deutsches Edikt,
Deutsches Verdikt.
deutsches Deutschtum
deutsches Boom-bum.
Nur Mut,
ihr DEUTSCHE IN UNGARN!
Budapest, Dezember 1988

 

  Valeria Koch: Bekenntnisse eines Birkenbaumes

Immer schon wollte ich Mensch sein.

Kurz danach, daß mich ein großherzig-seltsamer Mann auf dem Hügel voller Trauben und Sonnenschein neben seinem prächtigen Weinkeller angepflanzt hatte, daß mich die süßen Septemberlüfte und die lauen Regentropfen brüderlich-schwesterlich schmeichelnd anregten, meine Wurzeln der Mutter Erde und meine Äste Vater Sonne anzuvertrauen, begann ich und in mir eine namenlose Sehnsucht zu wachsen. Ich dachte, es geht allen Bäumen und Lebewesen auf dem Hügel und im Tal, wohin ich tagtäglich leichter und bequemer hineinblicken konnte, so, ich dachte sogar, es sei natürlich, wie Grillengezirpe und Blumenstille natürlich sind, mit einer namenlosen, plagend-schönen Sehnsucht heranzuwachsen, im Kreise aller anderen ähnlichen Wesen, die genauso empfinden wie ich. Glücklich war und wuchs ich dieses Glaubens, genoß des Herbstes Freigebigkeit, und kam der Mann, der mich gepflanzt, in den Keller, um Wein, Kartoffeln und Grünzeug nach Hause zu bringen, kam er zuerst und vor allem immer zu mir. „Schön bist, kleine Birke, und kräftig, ich will, du sollst mich überleben“, sagte er, und mir wurde warm dort, wo die Menschen ihr Herz tragen, wollte dem Mann etwas Nettes sagen, vielleicht ein Dankeschön fürs Leben, stand aber nur still und bleich da, und mir wurde schwer dort, wo die Menschen ihr Herz tragen, und ich ließ vor Traurigkeit und Liebe einige meiner vergilbten Blätter fallen. „Es herbstelt“, sagte der Mann nachdenklich und hob einige meiner Blätter von der Erde, steckte sie in die Hosentasche und ging. Da wurde es mir plötzlich klar, was mir fehlt: Ich wollte, ich wäre Mensch wie er. Wie gerne hätte ich ihn getröstet! Wieviel hätten wir einander zu erzählen! Er über Frau, Kinder, Leben im Dorf, ich über Ameisen, Johanniskäfer und Sonnenblumenliebe. Wie schön wäre es, Mensch zu sein!

Den Winter hindurch schlief ich unter einer weißen Decke, träumte von einem Erwachen als Mensch. Im Vergleich zu den anderen Bäumen erwachte ich ziemlich spät – ich wollte tiefer und länger schlafen, um sicherer Mensch zu werden. Damals noch stellte ich mir das Menschwerden als einen möglichen, wohl aber langen und komplizierten Prozeß vor. Eingeschlafen bin ich in der Hoffnung, im Frühling eine umgekehrte Philemon-und-Baucis-Verwandlung zu erleben. Statt dessen habe ich mein Überleben nach der großen Enttäuschung erleben und überdenken können. Erstaunt stellte ich fest, wie hoch ich bin, wie stark ich mich fühle, wie weit ich ins Tal hinuntersehe. Ich hörte ein Bächlein rauschen, der Amseln Pfeifkonzert, bewunderte die Eleganz der bescheiden-schönen Veilchen neben meinem Stamm im Gras, betrachtete die emsige Arbeit der aufs Feld ausgeschwärmten Frauen. Gegen Abend kam mein Anpflanzer, sah mich mit strahlenden Augen an, „bist ein schöner Baum geworden“, sagte er, und ich fühlte mich zum erstenmal in meinem Leben wohl als Baum.

Bis zum Herbst schien mir, meine Sehnsucht nach dem Menschentum stillen, manchmal sogar beseitigen zu können. Ich war jung, schlank und wurde von den Menschen schön genannt. Gegen September kam der Sohn meines Anpflanzers zum Keller. Schon von weitem erkannte ich ihn, obwohl ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Er war fünfundzwanzig, hatte ein offenes, sensibel-schönes Gesicht. Als er im Kommen den Keller und daneben mich erblickte, blieb er stehen und betrachtete uns. Sein Gesicht leuchtete wie die Spätsommersonne am klaren Himmel. Er kam näher und ließ sich im Gras nieder. Sein Blick schmeichelte über mein Laub, und als er ging, streichelte er mit der Hand zärtlich meinen Stamm. „Du bist so schön, kleine Birke, wie meine Braut, die jetzt krank ist. Du bist so weiß, so still wie sie im Krankenbett. Gott behüt’ euch beide.“ Plötzlich spürte ich wieder, wäre ich Mensch, könnte ich ihn beruhigen, seiner Liebsten helfen. Unruhig und traurig war ich in diesen Tagen, unsicher und trost- los. Milde Sonne, leichte Lüfte, kühles Mondlicht waren besorgt, versuchten, mich zu heilen. Das sahen die Nuß- und Zwetschgenbäume, die auch zum Keller meines Anpflanzers gehörten, und begannen vor wilder Eifersucht zu sausen und brau- sen. „Schämst dich nicht, nutzlose, fruchtlose, eitle Dirne! Auf deine leere Schönheit wird gepfiffen! Verrückt ist der Alte, der dich angepflanzt, verrückt sein Sohn, der dich verwöhnt. Schau unsere Früchte, sieh, wie nützlich wir sind, verdorre, du blasse Dirn’!“ zischten sie, und ich war nah am Zusammenbruch, weinte Tränen, die meine Blätter verbrühten, und am Morgen, als mein Anpflanzer mit seiner Familie zum Keller kam, um die Weinlese vorzubereiten, stand ich blätterleer und bewegungslos.

Während der vergangenen zwanzig Jahre habe ich oft gedacht, welch Glück, daß ich damals ebenso wie heute ein angewurzelter Baum war und nicht ein Nervenbündel, das Mensch heißt, der ich immer sein wollte. Als Mensch hätte ich gewiß wie ein zu Unrecht angegriffener, verletzter und verzweifelter Mensch gehandelt. Vielleicht hätte ich mich getötet, vielleicht die eifersüchtigen Bäume mit der Axt umgehauen oder in Brand gesteckt. Mensch sein ist manchmal gefährlich. Und dennoch! Außer dieser Nacht kenne ich keinen Augenblick, in dem ich nicht lieber hätte Mensch sein wollen. Mensch, der gehen, schaffen, lieben, denken, Kinder und Freunde haben kann und nicht nur dahinvegetiert, schön aber nutzlos wie ich. Ist schön wirklich nutzlos, hätten die Nuß- und Zwetschgenbäume recht? Erinnere ich mich an die selbstvergessene Freude der beiden Enkelkinder meines Anpflanzers, die lange glückliche Stunden zwischen meinen Ästen kletternd, in meinem Schatten ruhend, meine Blätter sammelnd, verbrachten, so, daß sie dabei immer wieder meine eigenartige Schönheit priesen, weiß ich, daß die eifersüchtigen Bäume nicht recht haben können. Naturwidrig ist freilich schon, daß ich so allein, so völlig a n d e r s bin als die Bäume auf dem Hügel und im Tal, die ich zu sehen bekomme. Oft stelle ich mir die mächtigen russischen Birkenwälder, über die mir mein Anpflanzer erzählte, vor: Wie schön doch ihr gemeinsames Rauschen und Gedeihen, ihre Stille im endlosen Schnee sein mag. Sie sind sogar nützlich: Sie verbessern den Boden, reinigen die Luft, man verwendet ihr Holz, ihre Rinde und Früchte.

Am liebsten aber wäre ich immer noch Mensch. Seit einigen Wochen schon sah ich meinen Anpflanzer nicht. Als er zuletzt hier war, um sich ein wenig umzuschauen, denn weder Wein noch sonst was lagert er schon seit Jahren im kühlen, großen Keller, da er schon gealtert, bemerkte ich, daß ihm nicht wohl sei. Langsam, mit kurzen, zögernden Schritten kam er des Weges, dann trendelte er um den Keller, der genauso alt und unbeholfen aussah wie er, und bevor er ging, kam er auch zu mir. Wie klein mir der einst starke, stolze Mann vorkam! Weiß wie meine Rinde war sein Haar! An meinen Stamm gelehnt, was er nie zuvor getan hatte, betrachtete er den blühenden Hotter. Er nickte: „Ja, ja, alles grünt und tönt wieder, nur dein Herz, Alter, will davon nichts mehr wissen.“ Wieder spürte ich, mir tut es dort, wo die Menschen ihr Herz tragen, weh, und ich wurde auf einmal sehr traurig. Ob es der Alte bemerkte?

Möglich, denn er streichelte meinen Stamm wie vor vielen Jahren seine Pferde und sagte tröstend: „Hauptsache, du überlebst mich, Birke. Kopf hoch und weiterwachsen!“ Dann ging er, und ich bleibe wie immer und warte. Wär’ ich Mensch, könnte ich ihn besuchen, ihm über Birkenwälder erzählen, was er mir erzählt, aber auch weiteres, denn wär’ ich Mensch, könnte ich, wüßte ich vieles, vielleicht sogar alles! Heilen würde ich ihn, und stürbe er trotzdem, könnte ich ihn begraben und seinem Urenkel über ihn erzählen. So aber stehe ich da und warte, und dort, wo die Menschen ihr Herz tragen, schmerzt es mich immer mehr.

Herbst ist’s wieder, kalte Regen fallen, der Keller steht vereinsamt und öde da. Im Sommer noch ist mein Anpflanzer gestorben. Seine Frau, ein altes, kleines Weibchen mit trauriger Stimme, hat es mir gesagt. Vor kurzem war sie da, begleitet von einem jungen Paar, der Enkelin meines Anpflanzers mit ihrem Mann. Er betrachtete den Keller und mich mit kaltem, sachkundigem, geübtem Blick, und ich begann plötzlich, mich zu fürchten. Wieder wollte ich, wär’ ich Mensch, könnte ich davonlaufen, sofort, bevor es zu spät. Ich hörte Worte wie „renovieren“ und „umhauen“, und schon sah ich einen modernisierten, elektrifizierten, fremden Weinkeller und einen Haufen Birkenholz – das, was von mir bleibt – vor meinem inneren Auge. Alle meine Ästchen zitterten. Da erklang die helle Stimme der Enkelin meines Anpflanzers: „Der Baum steht nicht im Weg. Er bleibt. Warum? Weil er einst mein Spielkamerad war. Weil er den Keller vom Norden her beschützt. Weil er schön ist. Und ... und überhaupt, weil er so m e n s c h l i c h aussieht, da schau mal!“ Und sie kam zu mir, tastete auf dem Stamm mit den Fingern ein Herz dorthin, wo auch die Menschen das Herz tragen, streichelte mir Formen von Augen, Mund und Nase auf meine Rinde, nannte mein vergilbtes Laub goldenes Haar und warf mir schließlich Küsse zu. Dann lief sie zu ihrem Mann, der ihr lächelnd zusah und „Oma! Oma!“ rief, und als die kleine Frau endlich herbeischlurfte, standen sie zu dritt mir gegenüber, und wir gehörten zusammen.

1977

 

  Valeria Koch: Gedenkzeilen über die Vertreibung

Man hat uns betrogen, vertrieben,
wir wollen vergeben den Trieben
belogener Freunde und Feinde:
Vertrauen bestrahlt die Gemeinde.
*
Wir feiern mit leisen, versöhnenden Tönen,
gedenken des Schicksals von Vätern und Söhnen,
von mißbrauchten Kindern, die wir damals waren,
wir wollen der Zukunft jeden Haß ersparen.
*
Nie wieder Verirren im Dschungel der Gewalt,
vergebet dem Nächsten, der Unheil gestiftet,
stoppt schon den kleinsten Haß und sagt rechtzeitig Halt,
lebt friedlich; bei Gott wird der Feind streng gerichtet.
Februar 1996

 

  Alfred Manz: Bilanz um die Jahrtausendwende

Sprachverwurzelt
schafften noch unsere Großeltern.
Sprachlos,
in Traditionen verwurzelt
schuften unsere Eltern.
Entwurzelt
lernen unsere Kinder
wieder –
Hochdeutsch.
2000

 

  Alfred Manz: Im Schatten des Balkankrieges

Variationen I.

(Familienchronik aus dem 20. Jahrhundert)

Urgroßvater
starb 1914 in Serbien den Heldentod
Großvater
erlag in Rußland der Hungersnot
Vater
geprügelt in Gakowo, ohne Brot
Ich
verfolge besorgt die Nachrichten
über den wiederholten Wahnsinn
1997/2002

 

 Alfred Manz: Im Schatten des Balkankrieges

Variationen II.

(Frauenschicksale)

Urgroßmutter
verwitwet mit einer kleinen Tochter im Krieg
Großmutter
vertrieben,
verwitwet mit vier Söhnen im nächsten Krieg
Mutter
als junges Mädchen
verlaust, mit Schrot gefüttert
in Titos hoffnungslosem Todeslager
Ich
pflanzte auch dieses Jahr
neue Reben im Garten
1997/2002

 

  Josef Michaelis: Agonie

Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurden wir als Faschisten verschrien
dann in die weite Welt vertrieben…
Bald wurden die Vereine
der Hierbleibenden aufgelöst
dann unsere Namen geändert
dann unsere Häuser weggenommen
dann unsere Schulen gesperrt
dann unsere Priester zum Schweigen gebracht
dann unsere Bräuche verboten
dann sangen unsere Mütter keine Wiegenlieder
dann sprachen wir untereinander nicht mehr Deutsch
dann radebrechten wir unsere Muttersprache
dann ließen wir unsere Friedhöfe
verwildern
dann…
zuletzt gaben wir
unseren Glauben auf
HEUTE HABEN WIR SCHON
EIN MINDERHEITENGESETZ
Jetzt bedeuten wir dem Westen nur billige Arbeitskraft
jetzt werden wir als Touristenattraktion gezeigt
jetzt werden sich die
Gegensätze mit der Mehrheitsnation zuspitzen
jetzt säen wir wieder Uneinigkeit unter uns
jetzt verscheiden unsere
noch deutsch sprechende Großeltern
jetzt vermodern unsere Stammbäume
jetzt wir die allerletzte Wurzel herausgerissen
von uns selbst
jetzt vergeuden wir
die zurückgelegten Kreuzer unseres Erbes
jetzt verkaufen wir unsere
noch auffindbaren Volkstrachten
jetzt stehen wir splitternackt da
jetzt drehen sich unsere Ahnen im Grabe um
jetzt schnitzen wir unsere eigenen Grabhölzer
jetzt bekommen wir die letzte Ölung
Jetzt…
Jetzt atmen wir noch
Jetzt möchte ich doch hoffen…
HEUTE LERNEN UNSERE NACHKOMMEN
IM KINDERGARTEN
ALS MUTTERSPRACHE
EINE FREMDSPRACHE
Most magyarul folytassam?
(Soll ich jetzt ungarisch fortsetzen?)
1993

 

  Josef Michaelis: Die Räder rattern

Räderrattern
zählt die Zeitscherben
rauchschwere
abgestandene Luft
im Viehwagen
Hinter ihnen
der Abschied -
tiefgesenkte Blicke
Gewaltmarsch
von Stall zu Stall
Güterbahnhof
Geschimpfe
dawai! nur dawai!
schrundige Lippen
wortlos
in der Ecke
Regungslose
dawai! nur dawai!
Es rattern die Räder
Tage dann Wochen
dawai! nur dawai!
Lager und Läuse
Kratzwunden Lumpen
Baracken Zäune
dawai! nur dawai!
Brotportionen
Skorbut mit Seuchen
dawai! nur dawai!
Quecksilber Quoten
steinhart der Boden
Malenkij Robot
Haut nur und Knochen
Schwankende Schatten
Jahre auf Jahre
Felder voll Toten
dawai! nur dawai!
Unwirscher Wächter
schreit
in jeder Nacht
Räder rattern
Namen
tausendmal Tausende
dawai! nur dawai!
der Schlepphund rollt
rattert und knarrt
Gleise glänzen
graue Schar
taumelt ans Tageslicht
dawai! nur dawai!
in Bergen gleißt
schwarzes Gold
Schnee glitzert
Eis spiegelt
im rauhen Rost
rattern Räder
sie knarren und rattern
und rattern
2005

 

  Josef Michaelis: Laufrichtung

Meine Vorfahren
waren dort geboren
wo die Donau entspringt
Ich kam da zur Welt
wo sie nach Süden hält
An welchem Ufer
die Wiege
meines Enkels schaukeln wir?
Jeder mächtige Strom
schwemmt aber Land
in seinen Wellen mit
ergießt sich ins Meer
unsres gemeinsamen Planeten

1990

 

  Josef Michaelis: Nachblüte

Der Morgen fand mich in dem Garten,
sah mich um, war in guter Laun’ –
erblickte wie auf Osterkarten
die bunte Blüte auf dem Baum.
*
Ich spähe um die Furchenrinde,
betrachte still das Blätterwerk.
Wohin verschwanden Frühlingswinde?
Wozu dies’ trughafte Gemerk?
„Warum gebarst du diese Blüte?
Herbstnebel reifen keine Frucht.
Lass falsche Hoffnung, deine Güte,
schon streift im Laub die kühle Luft.“
Ach! Oder hab nur ich die Meinung,
dass Kelchblätter so rasch verblühn?
Das Blühen wäre nur Erscheinung
und diese Frucht wird nimmer grün?
Den Blick locken die Kronenblätter,
ich schau sie an mit schwerem Herz:
Die Blüte trügt – im fahlen Wetter
Herbstwichte treiben ihren Scherz.
Breche dann auf, bin voller Sorgen,
mein Wesen ist von Weh erfüllt,
weiß gut, dass bald – vielleicht schon morgen –
wird dieser Stamm von Eis verhüllt.
Vor dem Kongress der Ungarndeutschen, 1983

 

  Josef Michaelis: Sturmvolle Zeiten

Spülglut der Jahre
richtete in unseren Ohren
Dämme auf
gegen trübe Dogmenflut
die Deiche aber brachen
unsere Häuser stürzten ein
heimtückische Strömungen
zwängten uns in Höhlen
des Schweigens
Argusaugen der Fledermäuse
lauschten dabei
unserem verhaltenen Atem
grauer Schimmel
fand Nährboden in unseren Beugen
auf unserer Stirn
ließen sich Parasiten nieder
Die Jahre hindurch
staute sich unsere Bitterkeit
zum Bergbach
aus dem Steinsalz unserer Tränen
wuchsen Tropfsteine
auf unserer Zunge
schlug Salpeter aus
Wir warteten
wiegten uns in Launen
des Messianismus
und taten
was wir tun konnten
Noch schmerzt das Wort
1987

 

  Stefan Raile: Dachträume

Es kommt vor, dass ich an jenes flache Dach zurückdenke, das zu dem Haus gehörte, wo wir, in die Stadt am Fluss vertrieben, lange zu viert ein möbelloses Zimmer bewohnten. Über einhundertzwanzig Quadratmeter groß und ein Stück höher gelegen als die meisten Bedeckungen der nächsten Gebäude, schien es mir, wenn ich, um eine Weile allein zu sein, vom Boden die schmalen Leitersprossen hochstieg, mühsam die schwere, quadratische, mit Stahlblech beschichtete Holzhaube hob und sie von oben wieder sorgsam aufsetzte, um niemand auf meine Spur zu lenken, wie ein abgeschiedenes, für andere unzugängliches Plateau. Anfangs suchte ich die zufällig entdeckte, streng verheimlichte Zuflucht vor allem auf, um mich von der Anspannung in der Schule zu erholen, wo ich durch einige der alteingesessenen Schüler, die sich von jedem Fremden, der in die überfüllte Klasse kam, beeinträchtigt fühlten, arg angefeindet wurde, und die Lehrer, ohne meine Herkunft zu berücksichtigen, viel mehr von mir verlangten, als ich aufgrund meiner mangelhaften Sprachkenntnisse während der ersten Monate zu leisten vermochte. Im nächsten Sommer, als ich die Anpassungsschwierigkeiten überwunden hatte, vollzog sich ein grundlegender Wandel. Ich empfand es nun als angenehm, durch meine Dachausflüge der bedrückenden Enge des einen Zimmers zu entrinnen, das wundervolle Gefühl ungestörter Freiheit auszukosten, den erregenden Kitzel zu spüren, der sich jedesmal einstellte, wenn ich an den ungesicherten Rand trat und in die gefährliche Tiefe lugte, den reizvollen, ungewohnten Blick auf die Stadt mit ihren zahlreichen Türmen, Fabrikschloten und Scheddächern zu genießen, ohne freilich verhindern zu können, dass meine Stimmung gelegentlich getrübt wurde, weil das Rathaus mich an die Jungen erinnerte, die mich, sobald sie in mir einen Zugezogenen erkannt hatten, hinterhältig überfielen und in den Springbrunnen stießen, das Villenviertel unterhalb des Napoleonberges mir bewusst werden ließ, wie das blonde Mädchen, obwohl ich, als ich unaufgefordert den Garten mit dem Schwimmbecken betrat, lediglich menschliche Nähe suchte, kaltherzig den Hund auf mich hetzte. Noch fester aber als die unliebsamen, ernüchternden Anfangserlebnisse nisteten in meinem Gedächtnis jene Geschehnisse, die mich auf dem Dach so stark wie an keinem anderen Ort bedrängten. Dabei blieb es sich gleich, ob ich in dem spröden Gras lag, das aus der Erdschicht wuchs, die man im Krieg, um bei Bombenangriffen die Brandgefahr zu mindern, aufgebracht hatte, oder ob ich, meinen Rücken im Sitzen an den Schornstein gelehnt, dorthin schaute, wo bei guter Sicht am südöstlichen Horizont die dunklen Gipfel des Riesengebirges den blassblauen Himmel auszackten.

Während die Straßenlaute, die nach oben drangen, zu einem schwachen Rauschen verkümmerten, glitten meine Gedanken über die Kuppen hinweg bis in das vertraute Dorf am Rande der Pußta, und neben den Eindrücken, die mir, sobald mich die Erinnerung überfiel, ständig erschienen, tauchten auch Bilder auf, die sonst ausblieben: der ein Stück vom Ort entfernte Teich, wo ich öfter mit Edit, der Nachbarstochter, badete und mich manchmal, um sie zu beeindrucken, ins flache, schilfige Wasser stellte, bis sich mehrere Blutegel an meinen Waden festsaugten, das kleine, rohrgedeckte Haus der hutzeligen, zahnlosen Pipa-Lisi, die meist, wenn ich auf dem Schulweg vorbeiging, am Fenster saß, genüsslich ihre langstielige Pfeife rauchte und mir zuweilen mit zittriger Hand eine Münze herausreichte, für die ich mir Bonbons oder ein Eis kaufen konnte, unser großer Kirschbaum, aus dessen schaukelndem Wipfel ich die dunkelroten Früchte in einen von Großmutter hochgehaltenen Korb pflückte, die schmale, mit Mais bestandene Fläche hinter dem Anwesen des alten Klock, wo mich Maria, seine Enkelin, wenige Tage, bevor der Gendarm uns zum Packen zwang, mit ihren warmen, weichen Lippen küsste, das Fasanennest neben der Weingartenhütte, aus dem die halbflüggen Jungen, als Betyár sie mit lautem Kläffen aufstöberte, verschreckt wegflatterten.

Wenn ich dann, derweil die Autos unten wieder brummten, die Straßenbahnen ratterten und die Kinder lärmten, enttäuscht die Wirklichkeit erfasste, tröstete mich der durch meine Eltern genährte Glaube, dass wir eines Tages heimkönnten in das Dorf, von dem ich, ins Gras gestreckt oder an den Schornstein gelehnt, so sehnsüchtig träumte. Später, als ich mich mit den aufgezwungenen Umständen abzufinden begann, und die Erkenntnis nicht mehr so schmerzte, wie es früher der Fall gewesen wäre, begriff ich, dass ich mich einer törichten Hoffnung hingegeben hatte, kein Weg zurückführte.

Warum meine Sinne auf dem Dach das für immer Verlorene jedoch stärker heraufbeschworen als anderswo, kann ich mir bis heute nicht erklären. Lag es daran, dass mein Blick so weit reichte, und der ferne Ort dadurch scheinbar näher rückte? War es die Sonne, die mich, wenn sie durch eine Wolke verdunkelt wurde, an jenen Morgen erinnerte, als sie sich urplötzlich geheimnisvoll verschleiert und das nahende Unheil angekündigt hatte? Oder bewirkte es gar das spärliche, dünnhalmige Gras, das, durch den dauernden Wassermangel allzeit vergilbt, so aussah wie daheim an den Wegrändern, wenn lange kein Regen gefallen war?

 

  Stefan Raile: Der Musiklehrer

Während meiner Schulzeit, in der es einen folgenreichen Einschnitt gab, weil wir, als ich die dritte Klasse abgeschlossen hatte, aus der Batschka nach Sachsen vertrieben wurden, unterrichteten mich viele Lehrer, von denen mir nur wenige gut, weit mehr mittelmäßig und die übrigen schlecht erschienen. Wenngleich ich zu letzteren den Musiklehrer zähle, der in der neuen Schule tätig war, die ich anfangs mit zwiespältigen Gefühlen aufsuchte, hat er mir, glaube ich, in jenem für mich schwierigen Abschnitt am meisten geholfen, ohne dass es in seiner Absicht lag.

Ich erinnere mich noch genau, wie Mutter mich am ersten Schultag begleitete und zum Direktor führte, der lange in meinem Zeugnisheft blätterte, das ihn sichtlich irritierte, da er nicht ungarisch konnte und deshalb größte Mühe hatte, die Wortnoten zu deuten. Endlich hob er den Blick, musterte nachdenklich meine Mutter und fragte: „Der Junge spricht wohl gar nicht deutsch?“

Mutter ahnte, was sich hinter seiner Vermutung verbarg. Um zu verhindern, dass ich vielleicht zurückgestuft würde, erwiderte sie nachdrücklich: „Doch, doch, er sprecht scho deitsch.“

So gelangte ich, scheinbar normal, in die vierte Klasse, was mich aber bald in arge Schwierigkeiten bringen sollte. Ich war der sechsunddreißigste Schüler und setzte mich auf den einzigen freien Platz in der vorletzten Bankreihe. Obwohl der Deutschlehrer, ein noch junger, durch eine schwere Kriegsverletzung verbitterter Mann, ziemlich weit entfernt war, hörte ich ihn deutlich, weil er sehr laut sprach, verstand jedoch fast nichts. Im bald folgenden Diktat schrieb ich die Wörter so, wie es nach den ungarischen Lautverbindungen erforderlich gewesen wäre, aber als wir die Arbeiten zurückerhielten, stellte ich bestürzt fest, dass ich kaum etwas richtig hatte. Die erste Fünf meines Schülerlebens blieb nicht die einzige. Ich versagte auch im zweiten Diktat und begann, darunter zu leiden, die Anforderungen nicht wie früher erfüllen zu können. Mich bedrückte, dass einerseits den Lehrer meine Nöte offenbar gleichgültig ließen, andererseits weder meine Eltern noch meine Großmutter imstande waren, mich ausreichend zu unterstützen. Die Einsicht, allein dazustehen, entmutigte mich, und wer weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn es den Musiklehrer nicht gegeben hätte, durch den ich mich anfangs allerdings gleichfalls gedemütigt fühlte. Der schmächtige, fast kahlköpfige Mann mit der dickglasigen Hornbrille teilte die Klasse in Sänger und Brummer. Da ich nicht in der Lage war, eines der gewünschten Lieder vorzusingen, ordnete er mich der zweiten Gruppe zu, die ungefähr zehn Schüler umfasste. Wir mussten während seiner Stunde stumm in der hintersten Reihe sitzen, um den makellosen, zweistimmigen Gesang der anderen nicht zu beeinträchtigen.

Sobald der Musiklehrer merkte, dass wir vor Langeweile unruhig wurden, ließ er uns fortan vor seinem Unterricht aus der Schulbibliothek jeweils ein Buch holen. Wegen des Umschlagbildes, das durch seine Fremdartigkeit meine Neugier weckte, wählte ich „Robinson Crusoe“ aus und las darin, derweil die Mehrheit weitere Lieder erlernte, mit wachsender Anteilnahme. Schließlich fesselten mich die Geschehnisse so sehr, dass ich beinah meine Umgebung vergaß, den Gesang nur noch wie ein feines Summen wahrnahm, dafür aber die geheimnisvolle, gefahrenreiche Insel sah und miterlebte, was Robinson widerfuhr. Ich übertrug die Handlung auf meine Lage und wollte die Schwierigkeiten, die ich hatte, so gut meistern, wie Robinson die Hindernisse überwand, denen er auf Schritt und Tritt begegnete.

Meine Phantasie war rege genug, um das, was ich anfangs nicht verstand, auszugleichen. Mit der Zeit vermochte ich nicht nur, jedes Wort mit dem richtigen Sinn zu erfüllen, sondern prägte mir ebenso unterbewusst ein, wie es geschrieben wurde, und so kam es, daß sich meine Diktate immer mehr verbesserten, bis ich nach etlichen Monaten wieder Einsen und Zweien wie früher erhielt.

Wenn der Abschnitt auch weit zurückliegt, habe ich ihn nicht vergessen, und manchmal frage ich mich, warum ich dem Musiklehrer, den ich später aus den Augen verlor, nie offenbarte, was er ungewollt bei mir bewirkte. Scheute ich den Schritt, weil der Mann mir durch seine ungewöhnliche Maßnahme auf einem Gebiet zwar unbestreitbar geholfen, auf dem anderen aber meine Möglichkeiten nachhaltig gemindert hat?

 

  Stefan Raile: Die Melone

„Kommt Ende Juli“, schrieb Teri, „dann werden unsere Melonen reif sein.“

Sie hoffte, mit der Ankündigung meine Vorfreude zu steigern, konnte nicht ahnen, dass es besser gewesen wäre, jede andere Frucht zu erwähnen, nur die Melonen nicht, weil es damit eine besondere Bewandtnis hatte, es jenes nachhaltige Erlebnis gab, das mich, obwohl es so weit zurücklag, noch immer beschäftigte.

Im Krieg und kurz danach hatten wir alle Gefahren glimpflich überstanden, nicht zuletzt durch Teris Vater, der unserer Familie freundschaftlich verbunden war, sich als Nachkomme von Schokatzen mit den jugoslawischen Partisanen und den Rotarmisten zu verständigen vermochte, dadurch rechtzeitig von ihren Plänen erfuhr und meine Eltern als Eingeweihter vielleicht davor bewahrte, nach Russland verschleppt zu werden. Aber dann, im zweiten Sommer nach dem Zusammenbruch, konnte auch er uns nicht mehr beistehen. Zu sehr gefiel einem der Ungarn, die aus der Slowakei in dem Batschka-Dorf angesiedelt wurden, unser fast neues Haus, so dass selbst die ungarische Staatsbürgerschaft, zu der sich mein Vater Wochen vorher nach einer schlaflosen Nacht bekannt hatte, und das uns vom Gemeindeamt schriftlich zugesicherte Bleiberecht nichts nutzten.

Wir begriffen es, als der Gendarm auftauchte, uns barsch zum Packen aufforderte, Mutters goldene Ohrringe einsteckte und die am Vortag gekaufte Aktentasche, die im folgenden Schuljahr meinen schäbig gewordenen Ranzen ablösen sollte, an sich nahm. Verstört durch das Geschehen und bekümmert darüber, dass wir nicht nur Kuh, Schweine, Geflügel und Katze, sondern auch unseren Hund Betyár zurücklassen mussten, vergaß ich die Wassermelone, die im Ziehbrunnen schwamm. Es war eine große, prächtige Frucht, die ich im Garten ausgewählt und mit dem Schöpfeimer hinabgelassen hatte, damit sie bis zum Abend gekühlt würde.

Erst während der Fahrt, im Güterwaggon, den meine Eltern, meine Großmutter und ich mit zwei Dutzend schwäbischen Dorfbewohnern teilten, erinnerte ich mich an sie. Je quälender in dem stickigen Raum mein Durst wurde, je öfter meine pelzige Zunge über die spröden Lippen leckte, desto deutlicher glaubte ich, die Melone aufgeschnitten vor mir zu sehen, und ich malte mir aus, wie erlösend es wäre, in ihr rotes, saftiges Fruchtfleisch zu beißen. Doch es blieb ein unerfüllbarer Wunsch, an den seltenen Haltepunkten bekamen wir lediglich Wasser, und in der sächsischen Stadt, wohin es uns verschlug, gab es zwar Äpfel, Birnen und Pflaumen, aber keine Melonen. Gewann die herrliche Frucht, die ich an dem verhängnisvollen Tag geerntet hatte, deshalb solchen Einfluss, dass mein Verlangen manchmal übermächtig wurde?

Wie um ihr Aussehen, ihren Geschmack nicht zu vergessen, stellte ich mir die Melone häufig vor, und als ich Jahre darauf die erste im Schaufenster eines Gemüseladens entdeckte, der über Mittag geschlossen hatte, erregte es mich derart, dass ich lange vor der Öffnung zurückkehrte und trotzdem zu spät eintraf, weil der Verkauf bereits telefonisch erfolgt war. Auch in der nächsten Zeit blieb ich glücklos, da in dem Land, das seinen Bewohnern vor allem Hoffnung bot, Mangelware meist unterm Ladentisch gehandelt wurde, und in den Jahren darauf, als ich hin und wieder doch eine der begehrten Früchte ergatterte, schmeckte jede fad, entsprach sie nicht annähernd der Vorstellung, die sich mit der Zeit in mir geformt hatte.

Nun lag auf meinem Schreibtisch Teris Brief, der zwiespältige Gefühle in mir auslöste. Einerseits freute ich mich auf das verlockende Angebot, andererseits verunsicherte mich, dass ich nicht wusste, welche Wirkung bei mir eintreten würde.

Während ich dann zwischen Teri und Géza über das riesige Feld schritt, das sie für zahlreiche Kunden mit Melonen bewirtschafteten, war ich so von der Fülle beeindruckt, dass ich vorübergehend alles andere vergaß. Es fiel mir schwer, eine Frucht auszusuchen, und als Teri mir abends ein großes, gut gekühltes Stück vorsetzte, begann ich zögernd zu kosten. Die Melone schmeckte besser als jede, von der ich in den letzten Jahren gegessen hatte, doch meine außergewöhnliche, von unstillbarer Sehnsucht genährte Erwartung, die seit jenem fernen Tag in mir gewachsen war, konnte auch sie nicht erfüllen.

 

  Stefan Raile: Halluzination

Komme ich in die Stadt am Fluss, wo wir, nach dem Krieg aus der ungarischen Ebene vertrieben, viele Jahre wohnten, suche ich meist auch das reizvolle, am Fuße des wuchtigen Napoleonberges gelegene Villenviertel auf, obwohl sich mit ihm ein missliches Erlebnis verbindet. Um der trostlosen Leere des möbellosen Zimmers, das wir uns zu viert teilen mussten, zu entfliehen und die erste, von unangenehmen Erfahrungen geprägte Schulwoche in der fremden, feindseligen Klasse zu vergessen, willigte ich sofort erfreut ein, als Großmutter mir an jenem warmen Samstagnachmittag vorschlug, sie auf einem ausgedehnten Spaziergang zu begleiten. Den Straßenbahnschienen folgend, gelangten wir, als es uns fast schien, die Stadt sei bereits zu Ende, hinter einem kleinen, gepflegten Park in das ausgedehnte Siedlungsgebiet, das uns beide gleichermaßen beeindruckte. In großen Gärten, wo wir neben Obstbäumen seltene Ziergehölze, Rankgerüste mit Rosen und von Klematis, Wein oder Efeu übersponnene Pergolen entdeckten, standen prächtige Häuser, und auf windgeschützten Freiflächen, zu denen schmale, sauber geharkte Wege führten, saßen Leute bei Kaffee und Kuchen unter farbigen Sonnenschirmen. Ich verspürte schlagartig Hunger, der sich nur schwer unterdrücken ließ, aber noch stärker empfand ich jähen Neid, weil die Villen, die ich überall bemerkte, in krassestem Gegensatz zum unwirtlichen Zimmer standen, das uns zugeteilt worden war, sie mir sogar schöner erschienen als unser lindgrünes Haus in dem vertrauten Dorf am Rande der Pußta, wohin ich mich täglich zurücksehnte, und meine Stimmung wäre wohl fast hoffnungslos geworden, wenn mich nicht wenig später übermütiges Lachen, das aus dem übernächsten, von einem schmiedeeisernen Zaun begrenzten Garten hallte, abgelenkt hätte. Als ich mein Gesicht zwischen die Stäbe presste, erspähte ich durch eine Lücke in der Hecke mehrere Kinder. Sie tummelten sich auf dem Rasen, hangelten an einem Klettergerüst, sprangen kreischend in ein Bassin, aus dem Wasser spritzte.

Die Distanz schien zu schrumpfen, ich rückte näher und näher, bis ich glaubte, ich stünde neben dem hellblonden Mädchen, das mich an Edit, meine Spielgefährtin aus dem Batschka-Dorf erinnerte, unter der Dusche und würde von der glitzerigen Nässe übersprüht. Als Großmutter mich berührte, erschrak ich und griff nur zögernd nach ihrer Hand.

Auf dem Rückweg dachte ich an das, was ich gesehen hatte, und in der Nacht träumte ich davon, meinte, neben dem Mädchen, das Edit glich, zu stehen, während das Wasser mir prickelnd ins Gesicht brauste.

Von einem starken, unbegreiflichen Verlangen getrieben, schlich ich mich am nächsten Morgen fort, folgte abermals den Straßenbahnschienen und erreichte wie am Vortag durch den kleinen Park das Villenviertel, wo sich in den Gärten nur wenig Menschen aufhielten, obwohl die Sonne, die vom wolkenlosen Himmel schien, bereits angenehm wärmte. Neben dem schmiedeeisernen Zaun blieb ich stehen, schob das Gesicht vor und lugte durch die Hecke. Zu entdecken war niemand, doch in meinen Ohren tönte das Lachen, und die Dusche begann zu tropfen. Erst lief das Wasser schwach, dann stärker, und schließlich sprühte es glitzerig wie gestern.

War es die Halluzination, die meine Vernunft ausschaltete und mich jegliche Scheu überwinden ließ? Oder beflügelte mich der Glaube, dass eintreten würde, was ich mir wünschte? Ich überkletterte den Zaun, schlüpfte durch die Lücke in der Hecke und näherte mich der Dusche. Obwohl ich, fast herangekommen, erstaunt feststellte, dass sie abgedreht war, setzte ich mich auf den Bassinrand und zog die Schuhe aus. Während ich meine Füße eintauchte, bemerkte ich das hellblonde Mädchen, das nun, da ich es genau wahrnahm, nicht mehr wie Edit aussah. Es stand jenseits des Beckens, blickte böse herüber und rief: „Verschwinde!“

Sie macht nur Spaß, dachte ich. Gleich wird sie lachen wie gestern mit den anderen.

Als ich das Knurren hörte, wandte ich den Kopf. Der Hund, der vier, fünf Meter hinter mir stand, war groß und hatte ein schwarzes, glänzendes Fell.

„Fass, Ringo, fass!“

Erst jetzt begriff ich, dass es ernst war. Ich drückte mich hoch und begann zu rennen, doch schon nach wenigen Metern rutschte ich auf dem taufeuchten Rasen aus. Während ich stürzte, warf sich das Tier über mich, und ich spürte seinen warmen, hechelnden Atem im Nacken.

„Platz, Ringo, Platz!“

Der Hund ließ knurrend von mir ab. Als ich mich erhob, gewahrte ich die Frau. Sie hielt das Mädchen an der Hand und hatte das gleiche helle Haar.

„Komm ja nicht wieder“, sagte sie, und in ihrer Stimme war eine Kälte, die mich erschreckte.

Zu Hause angelangt, wo ich mich mit dem von Großmutter aus Flicken gefertigten, nicht eindeutig bestimmbaren Stofftier in eine Zimmerecke setzte, hätte ich mir gern eingeredet, alles, was hinter dem schmiedeeisernen Zaun geschehen war, sei nur eine Halluzination gewesen, doch ich sah deutlich das böse, hellblonde Mädchen, spürte den hechelnden Hundeatem, hörte die drohenden Worte der Frau, und ich fühlte, zum wiederholten Male ernüchtert, seit wir uns in der Stadt am Fluss befanden, dass ich gegen die unwägbaren Gefahren, die ringsum zu lauern schienen, noch längst nicht gefeit war.

 

  Stefan Raile: Verbundenheit

Die Idee, nach fast vierzig Jahren noch einmal auf unserem einstigen Übungsgelände am Stadtrand wie damals gegeneinander zu laufen, stammte nicht von mir, sie gefiel mir aber sofort, und als wir aus dem Auto stiegen, spürte ich, dass es sich nicht bloß um eine nostalgische Laune handelte, mich wie die anderen das uralte menschliche Verlangen trieb, der Bessere zu sein. Gezeigt hatte es sich bereits in unseren Gesprächen, obwohl wir uns zurückhielten, sich keiner unangenehm in den Vordergrund spielte, weil wir selbst nach so langer Zeit noch eine erstaunliche Verbundenheit fühlten. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass wir uns belauerten, um herauszufinden, wer das glücklichere, erfülltere Leben geführt, die radikale Entwurzelung am besten überwunden hatte.

Während wir liefen, hörten wir neben neuen, ungewohnten Lauten wie früher den Bach plätschern, einen Zug auf dem Bahndamm vorbeirattern, die Kirchenglocke im nahen Vorort schlagen. Waren es die vertrauten Geräusche, die mir jene fernen Geschehnisse ins Gedächtnis riefen?

Zusammengebracht hatte uns ein ähnliches Schicksal, das viele Gemeinsamkeiten schuf. Wir waren alle nach dem Krieg mit unseren Familien vertrieben worden: Wolf aus Ostpreußen, Manfred aus Schlesien, Norbert aus dem Sudetenland und ich aus der ungarischen Tiefebene. Als Letzter in die übervolle Klasse gekommen, erfuhr ich die Solidarität der anderen. Wir empfanden, dass wir zusammengehörten, nicht zu den Eingesessenen passten, von denen wir uns schon äußerlich unterschieden: Da unsere Familien nur ein paar Bündel aus der verlorenen Heimat mitgebracht hatten, waren wir schlechter gekleidet, gingen bis in den Herbst barfuß, erhielten kein 'Taschengeld, besaßen kein Spielzeug, keine Bücher, bewohnten kein eigenes Zimmer. Um uns dennoch kleine Wünsche erfüllen zu können, sammelten wir Flaschen auf der Schutthalde, wuschen sie in einem Bach und lösten das Pfandgeld ein. Davon war es uns möglich, ins Kino zu gehen, ein Eis zu essen oder mit der Straßenbahn zu fahren. In den Sommerferien stromerten wir oft durch die Umgebung, stibitzten auf den Landstraßen Obst und verteilten es gleichmäßig untereinander.

Weil unsere Eltern fleißig und sparsam waren, verminderten sich die Unterschiede zu den Eingesessenen allmählich. Trotzdem fühlten wir uns ihnen gegenüber weiter benachteiligt und fürchteten, da uns ihre Verbindungen fehlten, nicht wie sie vorwärtszukommen. Fassten wir deshalb in der achten Klasse den Entschluss, nach Australien auszuwandern? Oder entsprang unsere Absicht weniger dem Glauben, dort bessere Bedingungen vorzufinden, sondern weit mehr einem starken, altersbedingten Abenteuerdrang? Unsere Vorbereitungen, zu denen vor allem körperliches Training gehörte, betrieben wir mit Eifer und Ausdauer. Zweimal in der Woche liefen wir auf dem Rundkurs am Stadtrand, führten penibel Buch über Zeiten und Platzierungen, freuten uns über jeden Fortschritt.

Doch die unterschiedlichen Berufe, die wir erlernten, weckten bei jedem neue Ziele. Das Bestreben, sie zu erreichen, zwang uns, in andere Orte zu ziehen. Bis Australien gelangte aber niemand, nur Wolf wechselte über die innerdeutsche Grenze. Seitdem hatte es kein Treffen mehr zu viert gegeben, erst jetzt, im Jahr nach dem Herbst, der alles änderte, bot sich die Möglichkeit.

Wir liefen bloß scheinbar wie früher. Unser Atem war lauter, der Puls klopfte härter, und die Beine dünkten mich schwerer. Wollte wirklich jeder gewinnen, weil unsere Gespräche nicht das eindeutige, insgeheim erhoffte Ergebnis gebracht hatten? Als ich merkte, dass die anderen zurückblieben, selbst Manfred, von dem ich meist bezwungen worden war, mir nicht folgen konnte, kostete ich eine Weile die Vorfreude des wahrscheinlichen Siegers aus. Dann stellten sich Zweifel ein: Brauchte ich den Triumph? Musste es unbedingt einen Gewinner geben? Wäre es nicht besser, durch eine Geste an unsere Verbundenheit zu erinnern, die uns einst so sehr geholfen hatte?

Ohne mir sicher zu sein, wurde ich langsamer. Während die Freunde näherkamen, vermutete ich, dass sie mein verringertes Tempo als Schwäche werten und mich überholen würden. Aber sie blieben neben mir, und als ich in ihre verschwitzten Gesichter sah, merkte ich, dass wir uns wortlos verstanden.