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Erika Áts: Der letzte Tag am Plattensee

Erika Áts: Der letzte Tag am Plattensee

die Sonne
zu glühend, zu rot
als wär’ morgen kein Tag mehr,
der See erblaßt,
mein Kopf in deinem Schoß,
du hast
meine langen Haare um die Faust gewickelt
wie einen Verband.
Langsam zieht aus deiner zum Kampf gekrampften Hand
Schmerz
herüber in meine Schläfen,
pocht
lang, kurz
kurz, lang
schwere Trochäen rollen strandwärts,
verplätschern kampflos, jambisch sanft auf Sand.

(1985)

 

Aufgaben zur Textbearbeitung (klicken Sie hier)

1. Welche Rolle spielt das Landschaftsbild im Auftakt und in den Abschlusszeilen in Bezug auf den Gesamttext?

2. Markieren Sie die erotischen Bilder im Gedicht und deuten Sie ihre Doppeldeutigkeit.

3. Wie verbinden sich im Werk Natur, Liebe und Poesie?

4. Welche Wirkung entsteht durch die Metrik des Gedichtes?meln

 

Interpretation

Bereits die im Titel angegebene Orts- und Zeitbestimmung verweist auf die lyrische Situation, auf das im Präsens verewigte Liebesidyll. Die Attribute der sommerlichen Sonne ‒ „zu glühend, zu rot“ ‒ beziehen sich auch auf die ‚heiße Liebe‘, deren Einmaligkeit unmittelbar danach mit ausgedrückt wird: „als wär’ morgen kein Tag mehr“. Die Sinnlichkeit, deren erotische Stärke trotz der zärtlichen Geste des Geliebten angedeutet wird, beherrscht die Urlaubsszene: Die „zum Kampf gekrampfte[en] Hand“ des Mannes verursacht zwar der Frau Schmerzen, diese werden aber zugleich in der sublimierten Freude der Poesie aufgelöst. Mit virtuoser Kunst leitet nämlich das lyrische Ich das körperliche Erlebnis ‒ durch mehrfache Bilderassoziationen in das geistig-seelische hinüber. Die heftig pulsierende Schläfe ruft zuerst die Parallele mit der Versrhythmik hervor, deren Versinnbildlichung aber wiederum erotische Konnotationen ermöglicht. Die Reihenfolge der klassischen Versfüße ‒ die (‚männlich‘) starken Trochäen werden „jambisch sanft“ (‚weiblich‘) abgelöst ‒ wird mit der besänftigenden Wellenbewegung metaphorisch veranschaulicht. Das Attribut ‚kampflos‘ bestätigt wohl die Annahme, dass es sich hier um die „sanfte“ erotische Hingabe handelt. Was hat das Metrum mit der subtilen Liebesszene zu tun? Liebe und Poesie, diese beiden Begriffe sind für einen Dichter ‒ hier in diesem Fall eine Dichterin ‒ gleichermaßen wichtig. Schöpferische Lust und Liebesrausch unterstützen sich sogar. Das klassische Beispiel dafür finden wir u.a. in Goethes fünfter Römischen Elegie: „Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet / Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand / Ihr auf den Rücken gezählt.“