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Robert Hecker: Verpflanzung, Wurzelschlag

Robert Hecker Verpflanzung

Ich höre noch das Rasseln der Räder:
Neue Hoffnungen wachsen in der
Sehnsucht des Elends. Wir hörten
den Ruf in Hessen und hofften:
Dort unten atmet man frei. Heimlich
stahlen wir uns auf das Fuhrwerk
– uns hat der Fürst nicht verkauft -
und kamen in niedergebrannten
Gegenden an. Das neue Zuhause?
Eins ist sicher: Ich höre noch immer
das Rasseln der Räder
und hoffe, daß es doch bald
ganz verstummt...

Robert Hecker Wurzelschlag

Noch rufen die alt her vertrauten Berge,
Noch träumen wir vom Weinbau am Hang;
Doch sind schon die hiesigen Trauben süßer,
Voller die Ähren, die Felder breit und lang.
Noch hören die Kinder die Wiegenlieder,
Noch wiederholt sich uralter Klang;
Doch wenn der Zigeuner die Geige zieht, so
stimmt unser Herz auch gleich ein in sein’n Gesang.
Noch sind wir mit Hessen so stark verbunden,
Noch suchen uns die Nachrichten auf;
Doch langsam wird all dies so blaß, verschwommen:
Ja, wir spüren schon; hier sind wir zu Haus’.

 

Aufgaben zur Textbearbeitung (klicken Sie hier)

1. Vergleichen Sie die beiden Texte miteinander. Welche Themen/Motive verbinden diese zwei Gedichte?

2. Welche Schlüsselworte verweisen in den beiden Gedichten auf den Zwischenzustand, der die zwei Welten miteinander verknüpft?

3. Deuten Sie die Zeitstruktur der beiden Texte.

4. Welche Funktion hat der Wechsel des Personalpronomens ‚ich‘ auf ‚wir‘.

5. Was sind die „neuen Hoffnungen“ und was wartet auf die deutschen Ansiedler „dort unten“ laut dem Gedicht Verpflanzung?

Interpretation

„Doppelt verwurzelt“ heißt die Überschrift der Gedichte von Robert Hecker, die in der Anthologie Erkenntnisse 2000 im Jahre 2005 erschienen sind und unter denen sich auch die hier angeführten Werke, Verpflanzung und Wurzelschlag befinden. Mit außergewöhnlicher Vorstellungskraft und Lebendigkeit werden in ihnen die spannungsvollen Zeiten der Übersiedlung der einstigen Vorfahren des Dichters vergegenwärtigt. „Verpflanzung“ und „Wurzelschlag“ – diese zwei Titel markieren zusammenfassend schon die zwei wichtigsten Momente der vor Jahrhunderte früher stattgefundenen Geschichte: das Verlassen der alten Heimat und der Erwerb eines neuen Heimatgefühls. Die Bezeichnung „doppelt verwurzelt“ verweist dagegen nicht nur auf die höchst komplizierte seelische Verfassung der ehemaligen Ansiedler, sondern auch auf das eigenartige und zum Teil ähnliche innere Erlebnis des Heraufbeschwörers der Vergangenheit. Denn in beiden Fällen geht es um die schwer beantwortbaren Fragen der Zugehörigkeit und der Identität.

Auf den Zwischenzustand verweist schon das motivisch wiederkehrende Temporaladverb ‚noch‘ („Ich höre noch das Rasseln der Räder“; „Noch rufen die alt her vertrauten Berge“), das an die lebendige Erinnerung an die alte Heimat erinnert. Entscheidend ist dabei der Perspektivenwechsel, der dem historischen Prozess treu folgt. Im Gedicht Verpflanzung wird zwar die Standortsbestimmung des lyrischen Ich in Rahmenform der Eingangs- und der Abschlusszeilen dargestellt, doch schon mit dem zweiten Satz wird die Familiengeschichte heraufbeschworen, die alte Heimat, die bald verlassen wird. Da sich die Zeitform Präsens nicht ändert, bleibt das Gegenwartserlebnis beibehalten, wodurch der Leser selbst Zeuge der Verlockung, „der neuen Hoffnungen“ wird.

Beinahe rätselhaft klingt das Schlussbekenntnis in Verpflanzung: „und hoffe, daß es doch bald / ganz verstummt…“. Drückt es den Wunsch aus, sich von der doppelten Heimatidentität zu befreien, oder von der Versuchung des Zurückverlangens in die alte Heimat, die inzwischen Inbegriff des Wohlstands geworden ist? Das Gedicht Wurzelschlag scheint dieses Dilemma zu entscheiden, indem dem wiederholten ‚noch‘ das ‚doch‘ konsequent entgegengesetzt und abschließend hervorgehoben und durch das ‚Ja‘-Wort bestätigt wird. Ein vielleicht noch überzeugender Beweis für die „Ankunft“ des späten Abkömmlings ist die vollständige Übernahme der Rhythmik und Rhetorik des berühmten Liebesgedichtes Szeptember végén [September-Ausklang] von dem ungarischen Nationaldichter Sándor Petőfi. Sogar in der Nachdichtung von Martin Remané kann dieser intertextuelle Zusammenhang wahrgenommen werden:

Wie freundlich vorm Fenster die Blumen noch blühen,
die Pappel, sie trägt noch ihr sommerlich Kleid!
Doch siehst du im Norden schon Schneegewölk ziehen,
und hoch in den Bergen, da hat's schon geschneit.
Noch fühl ich durchpulst mich vom Sommer wie immer,
der Säfte der Jugend mich noch nicht beraubt,
doch zeigen die Schläfen schon silbernen Schimmer,
der Rauhreif des Winters sinkt sacht auf mein Haupt.