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Robert Hecker: Deutschland du mein Mutterland

Robert Hecker Deutschland du mein Mutterland  (Fata Morgana)

Noch vor Jahren, ja da meinte
Ich, hier nur als Gast zu sein.
Auch mein Blick, der bei dir weilte,
Flößte mir die Sehnsucht ein.


Ich sammelte hier Ideen und Gefühle,
Die Farben eines menschlichen Seins,
und wartete, hoffte, daß mich jemand rufe,
um sie einzubauen ins gemeinsame Haus.


Die Anfrage blieb aus.
Die Türe, sie sperrte sich.
Und ich, die graue Maus,
stand vor ihr und schämte mich.

(2002)

 

Aufgaben zur Textbearbeitung (klicken Sie hier)

1. Deuten Sie den in Klammern gesetzten Untertitel in Bezug auf den Titel und den Gesamttext.

2. Welche Textteile verweisen darauf, dass das lyrische Ich Ungarn nicht als „Mutterland“ betrachtet?

3. Welche Hoffnungen wurden nicht erfüllt?

4. Erläutern Sie die Haus- und die Tür-Metaphorik.

5. Das Gedicht wurde im Jahre 2002, d.h., nach der Wende geschrieben. Welche Erwartungen und Enttäuschungen auf der Seite des Ungarndeutschtums sind mit diesem historischen Ereignis verbunden?

Interpretation

Schon der Untertitel – Fata Morgana – drückt ironisch die Enttäuschung aus, denn die im Text zum Teil nur angedeuteten Erwartungen und Hoffnungen wurden nach diesem poetischen Geständnis nicht erfüllt. Das Gedicht wurde 13 Jahre nach der politischen Wende in Ungarn geschrieben (2002). Die Öffnung der Grenzen bedeutete zugleich die Aufhebung des Eisernen Vorhangs und die unerwartet rasche Vereinigung des gespalteten Deutschlands, bei der sich Ungarn – auch nach den wiederholten Äußerungen deutscher Politiker – großen Verdienst geleistet hat. Sowohl das als auch die Entstehung der neuen demokratischen Regierung haben im großen Teil der Bevölkerung die Hoffnung erweckt, sich bald in den westlichen Teil Europas, „ins gemeinsame Haus“ integrieren zu können. Dazu kamen die Erwartungen der ungarndeutschen Minderheit, dass auch ihre nach 1945 Jahrzehnte lang aufgezwungene Isoliertheit, der versperrte Weg in das „Mutterland“, in die Bundesrepublik Deutschlands ebenfalls frei gemacht wird. Die Erfahrungen haben aber bald danach gezeigt, dass die Aufnahme der fernen „Verwandten“ in das einstige Heimatland wegen der kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede gar nicht problemlos ist. Von dieser Ernüchterung zeugt dieses Gedicht.