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Stefan Raile: Der Maulbeerbaum

Aufgaben vor der Bearbeitung des Textes (klicken Sie hier)

1. Suchen Sie im Leben Ihrer Familie nach Gegenständen, die für Sie eine besondere Bedeutung haben. Sprechen Sie paarweiße darüber.

2. Sprechen Sie mit Ihren Eltern und Großeltern über die Geschichte Ihrer eigenen Familie. Besuchen und fotografieren Sie Orte (Wohnungen, Häuser, Dörfer, Friedhöfe, Grabsteine etc.), die im Gedächtnis Ihrer Familie über eine besondere Bedeutung verfügen. Gestalten Sie für Ihre Klasse eine Präsentation zu Ihren Forschungsergebnissen.

3. Suchen Sie nach literarischen Werken, in denen ein Baum eine zentrale Rolle spielt.

4. Sprechen Sie darüber, welche symbolische Bedeutunge der Begriff Baum in der Religion, in der Mythologie und in der Literatur besitzt.

 

Stefan Raile: Der Maulbeerbaum

Blicke ich aus meinem Arbeitszimmer, sehe ich eine Birke, die immer wieder meine Aufmerksamkeit erweckt, obwohl mir längst jeder Zweig vertraut ist, und besinne ich mich auf Orte oder Landschaften, fallen mir Bäume ein: die Föhren bei Pizunda, die Platanen von Siófok, die Palmen in Gagra, die Buchen auf Rügen, die Trauerweiden am Schwielowsee.

Sie alle haben mich beeindruckt, meine Phantasie angeregt, vielleicht nicht ganz so wie der prächtige Ginko, den ich, wenn in den Botanischen Garten komme, jedesmal lange betrachte, und doch nimmt auch er nicht den ersten Platz ein, weil es jenen Maulbeerbaum gab, der daheim in unserem Hof stand. Sein gewaltiger Stamm, der eine hohe, weit ausladende Krone trug, hatte einen so großen Umfang, dass wir ihn zu dritt kaum umfassen konnten. Er war wohl damals schon fast zweihundert Jahre alt, und ich vermute, dass meine Vorfahren ihn pflanzten, als sie, von Maria Theresia gerufen, aus dem südlichen Schwarzwald ins öde Land zwischen Donau und Theiß kamen, um mit anderen Einwanderern das Dorf zu gründen, Felder und Weingärten anzulegen, Gewerbe auszuüben und Geschäfte zu tätigen.

Ich denke, das Bäumchen, dem ihre liebevolle Pflege auf dem sandigen Boden zu raschem Wachstum verhalf, schenkte bereits ihnen Freude und Entspannung, wenn sie sich, vom harten Tagewerke erschöpft, auf einer Bank in seiner Nähe ausruhten, im Frühjahr seine Blütenpracht bewunderten, im Sommer die ersten Früchte kosteten, im Herbst die Blattfärbung beobachteten. Ihre Nachkommen erlebten, wie der Baum robust und wuchtig wurde, sein Wipfel irgendwann nicht nur die Stallungen, sondern auch das Schilfgedeckte Wohnhaus überragte, und ich bin sicher, dass sie in der glühheißen Sommermonaten so gern wie ich seinen Schatten suchten.

Bereits als Kleinkind wurde ich von Mutter unter seinem dichten Laubdach in mein Stühlchen gesetzt, wenn sie im Hof ihre Arbeiten verrichtete, später schwang ich mich auf der Schaukel, die Vater an einem der kräftigen Äste befestigte, hoch in die Luft, und schließlich kletterte ich mit Hilfe einer Strickleiter weit in die Krone. Wurde der Baum deshalb so bedeutsam für mich, weil er mir abwechslungsreiche Erlebnisse ermöglichte? Fühlte ich mich beeindruckt von seiner unverwüstlichen Stärke, die mühelos Wind und Wetter trotzte? Oder mochte ich ihn wegen seiner süßen, schwarzen Früchte, von denen ich oft naschte, und die als Marmelade zubereitet fast noch köstlicher schmeckten?

Wahrscheinlich trifft alles zu, ganz gewiss aber auch, dass der Baum meine Einbildungskraft beflügelte, er in den Geschichten, die mir Großmutter erzählte, immer eine Rolle spielte, obwohl sie ihn nie erwähnte, und dass im letzten Sommer, den ich daheim verbringen durfte, gerade seine Blätter das beste Futter für meine Seidenraupen lieferten, verband mich noch enger mit ihm.

Als wir Wochen später, wie die meisten schwäbischen Dorfbewohner gnadenlos von unserem Besitz vertrieben, in die große sächsische Stadt gelangten, wo wir lange zu viert in einem Zimmer wohnten, vermisste ich den Maulbeerbaum so sehr wie meine Spielgefährten, unser Haus, den Garten, die Katze oder den Hund Betyár, und wenn ich, von Heimweh gequält, in Gedanken die weite Strecke zurücklegte, die uns der Güterzug weggefahren hatte, tauchte jedesmal sein genau bewahrtes Bild vor mir auf.

Wirklich sah ich ihn nach über einem Jahrzehnt bei meinem ersten Dorfbesuch wieder. Er schien stabil wie früher, unberührt von den Veränderungen, die sich ringsum vollzogen hatten, und ich spürte, während ich unter ihm stand, jene Vertrautheit, sie sich sonst nicht mehr herstellen ließ. Zog es mich, wenn ich ins Dorf kam, deshalb in seine Nähe, weil er mein Erinnerungsvermögen belebte, Geschehnisse wachrief, die ich für vergessen hielt?

Bekümmert verfolgte ich später, dass er doch nicht unverwüstlich war, von Mal zu Mal geschwächter wirkte, neben den verdorrten Ästen, die sich beängstigend mehrten, auch sein Stamm hohl zu werden begann. Obwohl ich damit rechnen musste, starrte ich im vergangenen Sommer verstört auf den Stumpf, der übrig geblieben war, und mich befiel eine schmerzliche Leere.

Manchmal wehre ich mich dagegen, dass es den Maulbeerbaum nicht mehr gibt, und es geschieht, dass ich ihn dort, wo die Birke steht, zu sehen glaube, robust und wuchtig wie einst.

Aufgaben zur Textbearbeitung (klicken Sie hier)

1. Welche Baumarten werden in der Erzählung erwähnt?

2. Wo befinden sich die genannten geografischen Namen?

3. Schauen Sie nach, was die verschiedenen Bäume symbolisieren.

4. Suchen Sie die Passagen im Text heraus, die sich auf die Ereignisse der donauschwäbischen Geschichte beziehen!

5. Stellen Sie dar, wie sich der Baum mit der Geschichte der Familie und der Minderheit verknüpft?

6. Untersuchen Sie den strukturellen Aufbau des Textes. Markieren sie die Grenzen zwischen den einzelnen Teilen im Text und füllen Sie die Tabelle mit einer kurzen Darstellung des Inhalts aus.

Strukturelle Bausteine des Textes

Handlung

Einleitung

 

Hauptteil

steigende Handlung

 

Höhepunkt

 

fallende Handlung

 

Schluss

 

 

7. Welche Rolle spielt die Erinnerung in der Erzählung? Sprechen Sie paarweiße darüber, warum das Gedächtnis im Leben einer Gemeinschaft (Familie, Institution, Volksgruppe etc.) über eine besondere Bedeutung verfügt.

 

Interpretation

Der Maulbeerbaum ist ein Schlüsseltext des Erzählbandes Dachträume von Stefan Raile. Die Kurzgeschichte knüpft sich an die Tradition der ungarndeutschen Literatur, die durch das Baummotiv die Schicksalsfragen der ungarndeutschen Geschichte und Identität thematisieren. Der Baum auf dem Hof des ungarndeutschen Bauernhauses auf der ungarischen Tiefebene ist sowohl Schauplatz, als auch Gegenstand des Spieles im Leben des Erzählers. Der Baum wird in der Erzählung zum Symbol der Kindheit, und als Zeuge der Jahrhunderte zum Wahrzeichen der ungarndeutschen Kultur. Als Ausgangspunkt der Narration dient die Erinnerung: der Blick des Erwachsenen durch das Fenster des Arbeitszimmers auf die Bäume des Parks ruft Erinnerungen aus der alten Heimat wach.

Der große Maulbeerbaum im Heimatdorf wurde noch von den ersten donauschwäbischen Siedlern gepflanzt, er deutet damit auf die kulturelle Kontinuität hin. Der Baum erlebte die Gründerzeit der ersten Siedler, und verbindet als Wahrzeichen der Tradition die Geschichte mit der Gegenwart. Zwischen den ersten deutschen Siedlern und dem Baum bestand eine besondere Beziehung, sie wendeten sich mit liebevoller Pflege zum Baum, die Bank, die im Schatten des Laubes aufgestellt wurde, diente zur Freude und Entspannung.

Der Erzähler erlebte die Beziehung zum Baum in seiner Kindheit auf unterschiedliche Weisen, die dargestellten Stufen markieren den Entwicklungsprozess des Subjekts in der eigenen Kultur von der Geborgenheit zur Eigenständigkeit: Als Baby saß er im Stühlchen neben der Mutter unter dem Laubdach, als Kleinkind schaukelte er mit dem Vater, später kletterte er aber mit der Strickleiter schon selbständig in die Krone. Die drei Ebenen stellen die persönliche Beziehung des Narrators zur Kultur der Gemeinschaft dar. Die einzelnen Stufen werden von drei Gegenständen aus Holz markiert, die als Bindeglied zur Gemeinschaft fungieren. Das Stühlchen ermöglicht eine passive Anwesenheit in der Nähe des Baumes, die Schaukel deutet auf die Abhängigkeit von dem Baum (von der Kultur der Gemeinschaft) hin, der Strickleiter sichert ein freieres und aktiveres Dasein im Laub des Baumes (in der eigenen Kultur). Der Erzähler hebt die vielseitigen Gaben der prächtigen Pflanze hervor: er war ein Schauplatz des Spiels, bot abwechslungsreiche Erlebnisse und sicherte eine ästhetische Schönheit. Die Stärke des Baumes symbolisiert die erhaltende Kraft der eigenen Kultur, seine Früchte ernährten die Mitglieder der Gemeinschaft: „Wurde der Baum so bedeutsam für mich, weil er mir abwechslungsreiche Erlebnisse ermöglichte? Fühlte ich mich beeindruckt von seiner unverwüstlichen Stärke, die mühelos Wind und Wetter trotzte? Oder mochte ich ihn wegen seiner süßen, schwarzen Früchte, von denen ich oft naschte, und die als Marmelade zubereitet fast noch köstlicher schmeckten?“

Der Baum verknüpft sich in der Erzählung mit dem Gestalt der Großmutter, die im Erzählband als ein Bindeglied zur Tradition erscheint. Der Baum taucht nach der Vertreibung in den Erinnerungen immer wieder auf, die Besuche in der alten Heimat lassen ihn aber nach den Jahren immer in einer anderen Form erscheinen. Bei dem ersten Dorfbesuch nach einem Jahrzehnt steht er noch stabil, wie früher und ist noch immer fähig das Gefühl der Vertrautheit zu wecken. Die Ausstrahlung des Baumes wirkt noch immer mit einer enormen Kraft auf den Erzähler, wobei er das Erinnerungsvermögen belebt und Geschehnisse wachruft, die er schon seit lange für vergessen gehalten hat. Der Untergang des Baumes beginnt aber schon einige Jahre später: die verdorrten Äste und der hohle Stamm waren die ersten Symptome dafür, dass der Baum nicht unverwüstlich ist. Als der erwachsene Erzähler im letzten Sommer den übrig gebliebenen Stumpf des Baumes erblickt, empfindet er eine schmerzliche Leere und muss sich mit dem Untergang konfrontieren: „Manchmal wehre ich mich dagegen, dass es den Maulbeerbaum nicht mehr gibt, und es geschieht, dass ich ihn dort, wo die Birke steht, zu sehen glaube, robust und wuchtig wie einst.“ Als Begleiter des Individuums durch das leben verwandelt sich der Baum in der Erzählung zu einem komplexen Symbol der Identität, das fähig ist die Bilder der Kindheit im schwäbischen Dorf der Nord-Batschka vor der Vertreibung, die Erinnerungen an die Heimat und die Kontinuität der donauschwäbischen Kultur zu integrieren. Durch den Akt des Erzählens kulturalisiert der Narrator seine Erfahrungen und versucht die Erinnerung an den Baum, an die verlorene Kultur der Heimat für das kollektive Gedächtnis zu bewahren.

Der Erzählband Dachträume von Stefan Raile ist im Jahre 1996 erschienen, das Leitmotiv der Erzählungen bildet die Erinnerung. Die Erinnerungen vollziehen sich in einer komplexen Erzählperspektive eines erwachsenen Narrators, der seine Erlebnisse als Kind, Jugendliche und junger Erwachsene integrieren versucht. Wegen seiner Fremdheitserfahrung in Deutschland sehnt er sich zurück in die verlorene Heimat, die in seinem Leben mit der Kindheit zu identifizieren ist. Nach der Vertreibung muss er sich in der neuen Umgebung mit einer komplexen Integrationssituation konfrontieren, die auf sprachlichen (schwäbische Mundart-Ungarisch-deutsche Hochsprache), sozialen (Dorf-Stadt), kulturellen (traditionelle Kultur-städtische Umgebung) und existenziellen Ebene (Not, Bauernhaus-Notwohnung mit einem Zimmer) beseitigt werden muss. Das Ringen um die eigene Identität wird vor einer melancholischen Stimmung der Nostalgie umgeben, die aber sich aber in der weisen Gelassenheit der Erwachsenenperspektive immer wieder aufgeht.

Die Ausgangspunkte der Erinnerungen bilden Gegenstände, Pflanzen, Personen, Gebäude etc., die Erinnerungen aus vergangenen Zeiten wachrufen. Die titelgebende Erzählung des Bandes Dachträume stellt die Verknüpfungder Erzählperspektive mit der Erinnerung dar. Der Erzähler zog sich als Kind nach den existenziellen Kämpfen der Integration immer wieder auf das Dach des Mehrfamilienhauses in der sächsischen Stadt zurück. Das Betrachten der Stadt von oben bot dem Kind einerseits eine Zeit des Alleinseins, andererseits die Systematisierung seiner Eindrücke, wobei beide zur langsamen Heilung seiner seelischen Verletzungen beitragen konnten.

 

Weiterführende Aufgaben (klicken Sie hier)

1. Lesen Sie weitere Kurzgeschichten aus dem Band Die Melone im Brunnen und suchen Sie in den Texten nach wiederkehrenden Motiven, die als Bausteine der kulturellen Umgebung fungieren. Bestimmen Sie für die unterschiedlichen Gruppen dieser Motive auch Oberbegriffe wie z.B. Gegenstände, Tiere etc.

2. Die Erzählungen von Stefan Raile stellen die Traumata von deutschen Heimatvertriebenen in der sowjetischen Besatzungszone dar. Forschen Sie nach, mit welchen Schwierigkeiten sich die unterschiedlichen Gruppen der Vertriebenen aus Ost- und Südosteuropa sich nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sahen.

3. Lesen Sie den Roman Im Krebsgang von Günter Grass. Stellen Sie dar, wie das Schicksal von deutschen Ostflüchtlingen im Text thematisiert wird. Welche Ähnlichkeiten konnten Sie mit der dargestellten Welt der Kurzgeschichten erkennen?