Nikolaus Niembsch (die Standeserhöhung wurde ihm erst 1820 nach der Adelung seines Großvaters zuteil) gehörte wie viele seiner Generation zu jenen Problematischen Naturen, denen Friedrich Spielhagen unter diesem Titel 1860/62 ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Den Begriff hatte er Goethes Maximen und Reflexionen entnommen. Mit ihm waren Naturen gemeint, deren Leben „ohne Genuß verzehrt“ werde, da sie „keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut“. Lenaus weltschmerzliche Zerrissenheit, die ihn mit zeitgenössischen Poeten, wie Lord Byron, Leopardi, Alfred de Musset und Lermontov verband (um nur je einen prominenten Vertreter dieser Problematiker aus verschiedenen europäischen Ländern aufzuführen), würde den Dichter bereits literarhistorisch und mentalitätsgeschichtlich zu einer interessanten Figur erheben. Wahrhaft überzeitliche Geltung aber erlangte er durch eine Reihe von erstrangigen Gedichten, von denen als berühmteste Beispiele hier lediglich die Schilflieder (1832) und Waldlieder (1844) genannt seien.
Seine Kinder- und Schulzeit (bis 1818) verlebte Nikolaus Niembsch in Ungarn, namentlich in Buda und Tokaj. Es folgten Studienjahre in Wien, kurzzeitig auch in Preßburg und Ungarisch-Altenburg, in denen er aber nur sein philosophisches Propädeutikum zu einem ordentlichen Abschluß brachte. Jura- und Medizinstudien schlossen sich den Philosophiejahren an. Nur die theologische Fakultät blieb ausgespart. Dafür betrieb er wenigstens ansatzweise das seinerzeit moderne Studium der Landwirtschaft. 1831, als er sich längst schon als Dichter fühlte und auch ausgewiesen hatte, endeten diese scheiternden Expeditionen in die Reiche der Wissenschaft in Heidelberg, wo er einen letzten Versuch unternahm, wenigstens als Mediziner approbiert zu werden. Ein zwischen 1821 und 1824 entstandenes Jugendgedicht, „Der Unbeständige“, läßt tief in die Seele dieses wie Faust ewig Unbefriedigten blicken, dem freilich das Tiefgründige, das Durchaus des faustischen Studierens mangelte:
„Keiner von den Erdenplundern
Lange mich behalten kann!
Heute bin ich zum Exempel
Ganz ein Metaphysikus;
Morgen schallt in Themis‘ Tempel
Mein unsteter Menschenfuß.
Heute steh ich nachts am Giebel,
Suche Jungfrau, Stier und Bär;
Morgen les ich in der Bibel;
Übermorgen im Homer.“
Die Heidelberger Episode von 1831 stand im Zusammenhang mit Lenaus erster und später oftmals wiederholter Reise in den deutschen Südwesten, die ihn durch Gustav Schwab mit dem schwäbischen Dichterkreis und dem renommierten Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Verbindung brachte. Diese publizierte 1832 seine erste Gedichtsammlung unter dem von ihm seit 1830 benutzten nom de plume Nikolaus Lenau und ermöglichte ihm den Zugang zum Morgenblatt für gebildete Stände. Wien blieb allerdings auch weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt in Lenaus curriculum vitae. Zwar waren die ihn verzärtelnde Mutter (Vater und Stiefvater spielten in seiner Biographie nur Nebenrollen) und die finanzkräftige Großmutter väterlicherseits, die beide seit den frühen 1820er Jahren in der Kaiserstadt wohnten, 1829 respektive 1830 gestorben und war auch die leidenschaftliche Liebe zu Bertha Hauer, die er 1821 kennen gelernt hatte, erloschen; aber es lebte doch dort noch seine ihm eng verbundene Schwester Therese mit seinem Schwager Anton Xaver Schurz, und 1833 begegnete er in Wien Sophie von Löwenthal, der Cousine seines Jugendfreundes Fritz Kleyle, einer verheirateten Frau, der er in einer Art von Hörigkeit verbunden blieb. Noch in einer anderen Hinsicht gab ihn die Stadt seiner Jünglingsjahre nicht frei: In Wien muß er sich auch jene luetische Infektion zugezogen haben, die im Oktober 1844 zum Ausbruch einer seine letzten Lebensjahre in die Nacht des Wahnsinns versenkenden progressiven Paralyse führte.
Lenaus Westwanderung sollte noch nicht in Stuttgart und Heidelberg zur Ruhe kommen. Im Frühling des Jahres 1832 trat er mit großen Erwartungen eine Schiffsreise nach Amerika an: „den Niagara will ich rauschen hören und Niagaralieder singen“, schrieb er am 16. März 1832 an seinen Schwager – wenige Tage vor Goethes Tod, der seine Wanderer aus dem Wilhelm Meister-Roman ja auch in die Neue Welt geschickt hatte. Leontin und Julie aus Eichendorffs Ahnung und Gegenwart waren dorthin aufgebrochen, und Karl Postl, der als Charles Sealsfield die deutsche Romanszene der 1830er Jahre beherrschte, war 1823 in New Orleans gelandet. Amerika: das verhieß Jugend, Ursprünglichkeit, Grenzenlosigkeit und Freiheit. Neben dem Freiheitsmotiv, das bei Lenau in allen seinen Unternehmungen mitschwang – gerade noch hatte er sich für den polnischen Freiheitskampf von 1830/31 begeistert und sein Scheitern betrauert – bewog ihn vor allem die Hoffnung auf eine immense Steigerung und Intensivierung seines Naturerlebens: Niagara statt Rheinfall! „Meine Poesie lebt und webt in der Natur“, so ließ er sich des weiteren Anton Schurz gegenüber vernehmen; „und in Amerika ist die Natur schöner, gewaltiger als in Europa. Ein ungeheurer Vorrat der herrlichsten Bilder erwartet mich dort, eine Fülle göttlicher Auftritte, die noch daliegt jungfraulich und unberührt wie der Boden der Urwälder“.
Seine überschwenglichen Wunschvorstellungen realisiertensich nicht. Schon nach einem Jahre kehrte er als Amerika-Müder wie später Dr. Moorfeld in Ferdinand Kürnbergers gleichnamigem Roman auf unseren Kontinent zurück. Zwar hatte er dem Niagara die erhofften Lieder abgewinnen können, aber Nachtigallen hatte er nicht gefunden, und stärker als alles andere stieß der kalte, nüchterne Geschäftsgeist der Amerikaner den reisenden Enthusiasten ab.
Die Jahre zwischen 1833 und 1844 verliefen ohne spektakuläre äußere Begebnisse. Wirtschaftlich konnte Lenau mit den hinterlassenen Geldmitteln seiner Großmutter und mit den Erträgnissen seiner Publikationen – vor allem die Gedichte und ab 1838 auch die Neueren Gedichte erwiesen sich als auflagenstarke Erfolge – als freier Schriftsteller zurechtkommen, und seine habituelle Melancholie schloß ihn nicht von menschlicher Zuwendung aus. Neben der Freundschaft seiner schwäbischen Dichtergenossen erfuhr er die Liebesbezeugungen etlicher, hier nicht alle aufzuzählender Frauen: selbstlose von Charlotte Gmelin, dem Schilflottchen, von Emilie von Reinbeck und Marie Behrends, mit der er sich noch in dem Katastrophenjahr 1844 verlobt hatte, eher selbstische von Sophie von Löwenthal. Am 22. Oktober 1844 wurde Lenau in die nahe Stuttgart gelegene Anstalt Winnenthal gebracht. Seit Mai 1847 vegetierte er in einem Irrenhaus in Oberdöbling. Seine letzte Ruhestätte fand er auf eigenen Wunsch in Weidling bei Klosterneuburg, wo seine Schwester Therese ein kleines Grundstück besaß.
Aus einem südöstlichen Grenzbereich der österreichischen Monarchie stammend, hat Lenau nie so recht im Kreise der genuin Wiener Poeten, etwa eines Feuchtersleben, Grillparzer, Raimund oder Seidl, Fuß fassen können. Wohl hat er die herrliche Natur seines Heimatlandes, ganz besonders die Alpen, geliebt und auch seinem Menschenschlage Sympathie entgegengebracht. Aber mit seiner sakralen und imperialen Prägung konnte der Freiheitsdurstige wenig anfangen. Damit entäußerte er sich aber auch des Schutzes einer bergenden und geheiligten Überlieferung, und sein Passieren der schwarzgelben Schlagbäume bedeutete mehr als eine lediglich räumliche Trennung von der Donaumonarchie. Rückhaltlos preisgegeben war er den Weltanschauungskämpfen seiner Zeit, und seine Distanzierung vom Katholizismus seiner Kindheit führte bis zu atheistischen Positionen. Seine Versepen, aber auch sein Doppelsonett „Einsamkeit“ zeugen davon. Im „Savonarola“ (1837) geißelte er die römische Kirche, in den „Albigensern“ (1842) saß er über den christlichen Glauben selbst zu Gericht. In „Faust „(1836) und „Don Juan“ (1851 aus dem Nachlaß) gestaltete er beispielhafte Problematiker der Neuzeit. Seine moderne Zerrissenheit hinderte ihn aber nicht an einer ästhetischen Einfühlung in schön präsentierte Glaubensinbrunst, so in dem exquisiten, Trakls „St.-Peters-Friedhof“ in mancher Hinsicht antizipierenden Sonett Der „Salzburger Kirchhof“, das mit den Worten beginnt:
„O schöner Ort, den Toten auserkoren
Zur Ruhestätte für die müden Glieder!“
und dessen Terzette lauten:
„Der fremde Wandrer, kommend aus der Ferne,
Dem hier kein Glück vermodert, weilt doch gerne
Hier, wo die Schönheit Hüterin der Toten.
Sie schlafen tief und sanft in ihren Armen,
Worin zu neuem Leben sie erwarmen;
Die Blumen winkens, ihre stillen Boten.“
Am heimischsten fühlte sich Lenau in einem ungrüblerischen Pantheismus, der ihm freilich auch mehr Sehnsucht bedeutete als Erfüllung war. Immerhin entsprangen dieser Weltsicht einige seiner schönsten Gedichte, allen voran einige seiner Waldlieder, darunter das hinreißendste Merlin-Gedicht der Weltliteratur. Von ihm, dem bretonischen Zauberer, heißt es:
„Stimmen, die den andern schweigen,
Jenseits ihrer Hörbarkeiten,
Hört Merlin vorübergleiten“.
Und das Gedicht endet ganz im Sinne des von uns Alltagsmenschen nicht Vernehmbaren mit Worten, die noch einmal, aber auf durchaus originale, unverbrauchte Weise in den Scheidejahren der Romantik Ludwig Tiecks „Mondbeglänzte Zaubernacht“ beschwören:
„Klingend strömt des Mondes Licht
Auf die Eich und Hagerose,
Und im Kelch der feinsten Moose
Tönt das ewige Gedicht.“
Als die Waldlieder im April 1844 im Morgenblatt erschienen, war Nikolaus Lenau nur noch ein halbes Jahr wachen Daseins vergönnt. Aber mit Kunstschöpfungen wie diesen hat er über die Miseren seines irdischen Lebens triumphiert.